Sterblich
anliegende Kleider, um zu demonstrieren, dass er einen Großteil seiner Jugend im Fitnessstudio verbracht hat.
»Ja, schon, aber er bestreitet seine Schuld. Und es ist viel zu früh, um nicht weiter in alle Richtungen zu ermitteln. Außerdem geht es jetzt erst einmal um die Frage, was das Motiv sein könnte«, erklärt Nøkleby.
»Hagerup hat rumgevögelt«, antwortet Stang. »Die Textmeldungen sind doch wohl eindeutig. Und Marhoni ist Muslim, oder? Für mich klingt das ziemlich nach einem Start-Ziel-Sieg.«
Sandland hebt eine Flasche Cola Zero an die Lippen und nimmt einen Schluck.
»Ich stimme zu, dass es auf den ersten Blick so aussehen mag. Aber von der Theorie des Ehrenmordes sollten wir meiner Meinung nach Abstand nehmen. Mir kommt es naheliegender vor, die Scharia etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.«
»Scharia?«, fragt Gjerstad.
»Ja. Sie wissen alle, was die Scharia ist?«
Sie sieht in die Runde. Die meisten nicken, aber nicht sehr überzeugend. Emil Hagen nimmt eine andere Sitzhaltung ein.
»Emil?«
Er sieht unangenehm berührt von links nach rechts, bevor er antwortet.
»Extrem strenge Regeln, wie man zu leben hat, oder so was?«
Sandland lächelt kurz.
»So könnte man es auch sagen. Die meisten denken bei Scharia an völlig durchgeknallte Fundamentalisten. Aber die Scharia ist eine ziemlich komplexe Materie. Diejenigen, die sich als Kenner der Scharia bezeichnen, haben viele Jahre die Schule besucht, um sich die Rechtsgrundsätze anzueignen. Man muss den Koran studieren, die Äußerungen und Taten des Propheten Mohammed, die Geschichte, die Auslegungen unterschiedlicher sogenannter Gesetzesschulen und so weiter und so fort. Heute gilt die Scharia in islamischen Ländern vor allen Dingen für familiäre Verhältnisse, Scheidungen, Erbrecht und ähnliche Sachverhalte.«
»Aber was hat das mit dem Mord an Hagerup zu tun?«, fragt Gjerstad ungeduldig.
»Dazu komme ich gleich. Es gibt kein allgemeingültiges islamisches Recht, und nur wenige Länder praktizieren ein Strafrecht, das wirklich voll umfänglich auf dem Islam basiert. Diese Länder haben aber etwas, das sich Hadd-Strafe nennt.«
»Ha-was bitteschön?«, fragt Hagen.
»Hadd-Strafe. Eine Rechtspraxis, die im Koran erwähnt wird. Bestimmte Verbrechen werden auf konkrete Art und Weise bestraft. Zum Beispiel durch Auspeitschen. Oder indem man dem Schuldigen eine Hand abhackt.«
Brogeland nickt still. Ihm ist schlagartig die Reichweite dessen bewusst, was Sandland gerade gesagt hat.
»Und was muss man verbrochen haben, um derart bestraft zu werden?«, fragt Nøkleby und faltet die Hände vor sich.
Sandland sieht sie an und sagt: »Ehebruch, zum Beispiel. Dafür kann man zu hundert Peitschenhieben verurteilt werden. Und ein Diebstahl kann einen die Hand kosten. Aber die Umsetzung der Hadd-Strafe unterscheidet sich von Land zu Land, und in manchen Fällen nehmen die Leute das Gesetz in die eigenen Hände und rechtfertigen ihr krankes Vorgehen, indem sie auf Gottes Gesetz verweisen. Der symbolische Wert solcher Strafen ist offensichtlich das Wichtigste, denn dadurch zeigt man, dass man die Vorschriften des Korans und das islamische Recht akzeptiert.«
»Und sei es nur auf dem Papier?«, hakt Nøkleby nach.
»Und sei es nur auf dem Papier«, bestätigt Sandland und nickt. »Aber ein Land praktiziert diese Gesetze tatsächlich. Im November 2008 wurde ein dreizehnjähriges Mädchen in Somalia gesteinigt, weil sie es gewagt hatte, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Sie wurde in ein Fußballstadion gebracht, in ein Loch im Boden gestellt, das mit Erde aufgefüllt wurde, bis nur noch ihr Kopf herausragte. Danach sind fünfzig Menschen mit Steinen auf sie losgegangen. Und tausend haben dabei zugesehen.«
»Scheiße«, sagt Hagen.
Brogeland betrachtet Sandland verträumt. Du darfst gerne meine Lehrmeisterin sein, denkt er. Mit Peitsche und Handschellen in Reichweite, falls er falsch auf ihre Fragen antwortet.
Stang schüttelt den Kopf.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe vier Semester Religionsgeschichte studiert.«
»Das ist ja alles schön und gut«, mischt Gjerstad sich ein. »Aber das bringt uns der Antwort auf das Warum noch kein Stückchen näher.«
»Nein, und es sagt uns auch nichts darüber, wer sie ermordet hat.«
»Sie glauben nicht, dass es Marhoni war?«, fragt Nøkleby.
»Ich bin mir noch nicht sicher, was ich glaube. Aber Marhoni kommt mir nicht wie ein hartgesottener Muslim vor, um es mal leger auszudrücken,
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