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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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kompromittierende SMS erwähnt. In welcher Weise?
    > 6tiermes7:
    Glaube, sie war untreu.
    > MakkaPakka:
    Und das soll der Grund für den Mord sein? Zieht ihr deswegen Ehrenmord in Betracht?
    > 6tiermes7:
    Weiß nicht.
    Diese Infos hat Iver Gundersen sicher nicht, denkt Henning und nickt zufrieden. In seinem Kopf nimmt ein Plan Gestalt an. Er mag Pläne. Aber keine Abkürzungen.
    Und er hat das Gefühl, dass sich die Polizei gerade an einer solchen Abkürzung versucht.

20
    Träume. Würde es nach ihm gehen, gäbe es einen Knopf, mit dem man die Schleuse schließen könnte, die nachts den Zugang zum Unterbewusstsein öffnet. Henning ist aufgewacht, liegt da und wartet darauf, dass seine Augen sich an das Dunkel gewöhnen. Sein Atem geht rasch. Er glüht. Der Tag ist noch nicht angebrochen. Trotzdem ist er hellwach. Und das hat er wieder diesen Träumen zu verdanken.
    Er war mit Jonas auf dem Spielplatz im Sofienbergpark. Es war Winter und kalt. Er saß auf einer schnee- und eisfreien Bank, trank heißen Kaffee aus einem Plastikbecher und sah weiße Zähne, rote Wangen, Dampf von einer hellblauen Mütze, die viel zu eng auf dem Schädel saß, und Augen, die seinen Blick suchten, immer wieder. Dann kraxelte Jonas zum höchsten Punkt des Klettergerüstes. Der Junge war so damit beschäftigt, seinen Vater anzusehen, dass er einen Moment nicht aufpasste und durch das Seilnetz zwischen zwei Plastikröhren rutschte, den Halt verlor und vornüber mit dem Gesicht und dem Mund auf das Geländer knallte. Henning sprang auf und lief zu ihm, drehte Jonas’ Kopf zu sich, um nachzusehen, wie es ihm ging, und sah in ein schwarzes, verkohltes Gesicht ohne Mund und Zähne.
    Das Einzige, was nicht schwarz war, waren die brennenden Augen.
    Er wacht davon auf, dass er wie ein Wahnsinniger versucht, die Flammen in Jonas’ Augen auszupusten. Aber jeder Versuch scheitert, die Augen seines Jungen sind wie diese Kuchenkerzen, die man unendlich oft ausblasen kann, deren Flammen aber immer wieder auflodern.
    Er kennt diesen Traum bereits, trotzdem knockt er ihn jedes Mal wieder völlig aus. Sein Puls rast, er kneift die Augen zusammen und versucht, die schrecklichen Bilder zu verdrängen. Er denkt ans Meer, den Tipp hat Dr. Helge ihm gegeben. Er soll an etwas anderes denken, an etwas Positives, das ihn glücklich macht, wenn er in Situationen gerät, die schmerzliche Gedanken und Gefühle auslösen.
    Henning liebt Wasser. Er hat viele gute Erinnerungen an das Meer. Und das Meer hilft ihm, die Augen wieder zu öffnen. Er dreht sich auf die Seite und sieht auf der Uhr seines Handys, dass er fast drei Stunden geschlafen hat. Gar nicht schlecht. Und er denkt, dass das reichen muss.
    Wenigstens für dieses Mal.
    Es gibt nicht viel, was man mitten in der Nacht tun kann. Er lässt die Streichhölzer Streichhölzer sein und steht auf. Geht ins Wohnzimmer, schaut zum Klavier, schlurft aber daran vorbei. Seine Hüfte schmerzt wieder, es ist aber noch zu früh für die Tabletten.
    Er setzt sich in die Küche und lauscht dem Kühlschrank, der abwechselnd brummt und singt. Denkt, dass er sicher bald den Geist aufgibt. Auch der.
    Das kontinuierliche Wimmern des Kühlschranks lenkt seine Gedanken auf die Sommerhütte der Familie, in der er seit Jahren nicht mehr war. Sie liegt bei Stavern, neben Anvikstranda Camping, klein und spartanisch, dreißig Quadratmeter, wenn’s hochkommt. Stube und zwei winzige Schlafzimmer. Eine Küchenanrichte mit einem kleinen Herd. Fantastischer Ausblick aufs Meer und jede Menge Kreuzottern.
    Sein Großvater hat die Hütte gleich nach dem Krieg gebaut, auf billigste Weise, und dort hat es einen uralten Kühlschrank gegeben, der nie ersetzt worden ist. Jedenfalls weiß Henning nichts davon. Und dieser Kühlschrank hat genauso gewimmert und geächzt wie sein eigener jetzt.
    Als Erwachsener war er nie mehr in der Hütte. Vielleicht fährt Trine ab und zu hin, denkt er, ist sich aber nicht sicher. Vielleicht gibt es den alten Kühlschrank ja immer noch. Er war höchstens einen Meter hoch. Um die Tür zu schließen, musste man unten mit dem Fuß dagegendrücken, sonst sprang sie wieder auf. Und die Fächer in der Kühlschranktür waren lose und hatten Risse, sodass alle schweren Sachen wie Milch oder Flaschen auf den Einlegeböden liegen mussten.
    Aber er funktionierte. Noch heute erinnert er sich daran, wie kalt die Milch aus dem Kühlschrank war. Nirgendwo sonst hat er je so kalte Milch getrunken und so oft Hirnfrost bekommen wie

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