Sterntaucher
hatte sie Nick Cave gehört und sich die Augen schwarz umrandet. Sie fragte: »Wie kamen die Jungs miteinander aus?«
»Ganz gut.« Tillmann seufzte. »Robin hat Dorian immer mitgezogen, der war aktiver.«
»Haben Sie noch Kontakt mit Dorian?«
»Nein. Die sind fast zur gleichen Zeit ausgezogen. Eigentlich war der ein Schulversager, jetzt ist er bei der Polizei.« Tillmann versuchte ein Lächeln, aber sie fand das nicht komisch. Sie kam Kissel zuvor, als sie fragte: »Erinnern Sie sich an Dienstag?«
»Natürlich.« Tillmann kniff die Augen zusammen.
»Schön«, sagte sie, »dann erzählen Sie mal. Dienstag, so von Mittag an, was haben Sie da gemacht? Die Angaben, die Sie jetzt machen, werd ich überprüfen müssen.«
»Ach so.« Er verschränkte die Arme und sah beleidigt aus. »Ich hatte einen Hexenschuß.«
»Ja und?«
»Was heißt ja und – wissen Sie, wie das ist? Man ist bewegungsunfähig, verstehen Sie? Kann sich nicht rühren. Wenn Sie mir das nicht glauben, fragen Sie den Notarzt, da kommen Sie doch wohl an die Unterlagen ran. Eine Unverschämtheit ist das.«
»Seien Sie froh, daß Sie es nicht im Kreuz haben«, sagte Regine Tillmann mit ruhiger Stimme, »sonst wüßten Sie, was ein Hexenschuß ist.«
»Aber das ist doch schon sehr schön, was Sie sagen.« Ina lächelte Tillmann an. »Wann haben Sie den Notarzt angerufen?«
»Ich konnte gar nicht ins Büro. Gegen zehn oder elf war das. Das ist das Letzte, was Sie da fragen.«
»Kennen Sie einen Kemper?«
»Kemper? Wer ist das?«
» Kennen Sie –«
»Nein«, rief Tillmann. »Zumindest erinnere ich mich nicht.«
»Wir wollten Sie gestern nacht schon aufsuchen«, sagte sie, »als Robin aufgefunden wurde. Gestern ging’s wieder?«
»Was?«
»Mit dem Rücken.« Sie sah an ihm vorbei zu seiner Frau, die so ruhig auf dem Sofa saß, als verfolge sie ein Fernsehspiel. Vielleicht hatte sie ihren Spaß daran und gönnte ihm das Schwitzen und die Angst.
»Anzeige.« Tillmann hob die Arme, ließ sie fallen und murmelte: »Anzeige, ich erstatte Anzeige. Ist das gleichbedeutend mit Ihrer Anwesenheit hier?«
»Wie?« Ina kniff die Augen zusammen.
»Das ist die Kammer, hat er gesagt.« Tillmann nickte vor sich hin. »Das hat Robin gesagt, als ich ihn mit dem Video erwischt habe.« Er starrte auf einen fernen Punkt und sah vielleicht die letzten Jahre, sah alles, was falsch gelaufen war und sich nie wieder geradebiegen ließ.
»Er hat nicht gesagt: Das ist meine Mutter.« Er schluckte und vergoß ein paar Tränen und hätte dabei wohl gern in den Spiegel gesehen, wäre in diesem Raum einer gewesen.
Die Frau auf dem Video starb nicht.
Als man ihre Fesseln löste, war ihr Körper noch am Leben, und die Kamera zeigte das Blut. Sie weinte, und die Kamera zeigte ihre Tränen. Sie verschränkte die Arme über den Brüsten und bewegte die Lippen, doch sprach sie ins Leere hinein, und als sie ein paar torkelnde Schritte machte, war auch die Frau im Abendkleid wieder zu sehen. Noch immer lehnte sie wie eine gelangweilte Gastgeberin an der Wand, träge ihr Blick, die Züge wie erstarrt.
Dorians Mutter. Ina nahm den Ausdruck, den die Kriminaltechniker von dieser Aufnahme gemacht hatten, und ließ die Spitze ihres Bleistifts über dem Maskengesicht kreisen. Wie alt war sie gewesen, als sie Stunden damit zubringen konnte, Prinzessinnen und Schauspielerinnen die Zähne schwarz zu malen? Die grinsten ja alle, was ein Fest für den Filzstift war, überall Zähne. Noch heute konnte sie den Aufschrei ihrer Mutter hören: Du hast schon wieder die Bunte versaut!
Die hier zeigte ihre Zähne nicht, doch hatte sie leblose Augen, in die man den Bleistift bohren könnte. Wo versteckte sie sich?
Das Band war ein paar Jahre alt, hatten die Techniker notiert, datieren ließ es sich nicht. Spuren, die sich verloren. Wenn Tillmanns Behauptung stimmte, daß Robin dieses Video besessen hatte, welchen Weg war er gegangen, um es zu bekommen? Verschollen im polizeilichen Sinn war die Kammer nicht, doch wie hatte Robin sie gefunden? Hatte sie ihn selbst getötet oder jemanden beauftragt, diesen Typ zum Beispiel, mit dem sie vor Jahren lebte, diesen Kemper? Hatte sie Angst um ihr bißchen Ruhm, wenn in der Zeitung stand, was sie auf Folterpartys trieb? Geschichten gab es doch genug, Geschichten, die man nicht erzählen mochte, von der Kälte und vom Tod.
Sie warf ihren Bleistift auf den Tisch und guckte zu, wie er über den Rand hinaus rollte. Überall lagen Notizen herum,
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