Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
Vom Netzwerk:
Unmögliche vollbracht.«
Unerwartet ernst erwiderte Saul: »Mann, heute zählen keine Märchen. Was zählt, sind sichtbare, eindeutige, glaubhafte Tatsachen. Was zählt, ist die einfache Wahrheit! Auf mehr läßt sich keiner ein. Das weißt du so gut wie ich.«
»Du bist ein Scheißkerl!« sagte Demperer. »Da brauchen vielleicht Menschen unsere Hilfe.«
»Ein Scheißkerl«, sagte Saul, »weil ich dir gesagt habe, wie die Wirklichkeit ist? Du bist ein Traumtänzer. Es wird sich zeigen, wen von uns beiden Adomeitis für einen Scheißkerl hält.«
    Erschöpft lehnte sich Lauretta gegen die Wand. Canabis faßte ihren Arm. Ihre blutleeren Lippen zeigten ein Lächeln wie im Tod. »Es geht vorbei. Mach dir keine Sorgen. Mein letztes bißchen Kraft, die Freude, verstehst du. Ich muß zu mir kommen. Ich kann es noch nicht glauben. Wir sind durch.« Sie stieß sich mit der Schulter ab. »Wir müssen weiter. Ich muß jetzt gehen, ich muß, sonst glaube ich es einfach nicht. Ist es nicht unglaublich, nach einhundertsiebzig Jahren!«
    »Nach siebzehn Stunden.«
Sie lachte. »Pedant.«
»Effektiv«, sagte er, »effektiv haben wir…«
»Dein Effektiv ist mir egal«, erwiderte sie. »Sag mir lieber,
    ob wir uns rechts oder links halten müssen.«
»Links.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ein kleines, grünes Männlein hat es mir zugeflüstert.« »Gut, ich vertraue dir, du anmaßender Kerl. Aber wehe, du
    führst uns in die Irre.«
»Sagte zum König das Volk und trottete hinterdrein.« In trunkener Glückseligkeit erheiterte er sich minutenlang an dem Bild, und immer, wenn sie ihn anrief, blickte sie in ein kindlich strahlendes Gesicht.
    Vor jedem neuerlichen Abzweig traf er feldherrenhaft siegesgewiß die Entscheidung. Seine Sicherheit faszinierte sie bis zur Lähmung ihres eigenen Willens, und sie folgte ihm widerspruchslos auch dann, wenn ihr beide Möglichkeiten als gleichberechtigt erschienen.
    Einmal fanden sie sich in einem Kessel, in welchen mindestens zehn Stollen einmündeten. Keinen Augenblick verharrte er in der Mitte. Ja, er unterzog die anderen Möglichkeiten nicht einmal dem Augenschein. In seinem vorwie aufwärtsgewandten Blick offenbarte sich eine Konzentration, als müßte er durch die Felsen hindurchsehen.
    Weiter ging es und weiter, aufwärts schließlich mit erschöpftem Schritt. Keine Macht der Welt hätte sie jetzt noch aufhalten können. Das Geräusch ihrer Tritte klang ihnen wie das Ticken einer geruhsamen, alten Uhr. Unaufhörlich schwang das Pendel, eine gewaltige, gelbschimmernde Scheibe aus.
    Sie taumelten hinaus in den Tag, den nicht die Sonne schuf. Geblendet hielten sie sich aneinander, geblendet, obwohl der Schein ihrer Lampen hundertmal heller gewesen war, geblendet, obwohl der Saturn vieltausendmal geringer strahlte als die Sonne. Vor dem matten Licht der Sterne schlossen sie die Augen und vor der Schwärze des Alls. Kaum faßbar war der Übergang. Wie abgeschnitten endete der Stollen, den nächsten Schritt setzten sie bereits in die Grenzenlosigkeit.
»Sieht aus wie Schweizer Käse«, flüsterte Canabis.
    Lauretta wandte den Blick zurück. Eine Weile musterte sie die Felsenfront des Massivs, das für unvorstellbare Zeit ihre Gefangenschaft bedeutet hatte. »Ich kenne die Gegend nicht. Von hier aus sind wir seinerzeit nicht eingestiegen.«
    »Um ehrlich zu sein«, gab er zu, »ich fühle mich ebenfalls fremd hier.«
Sie betrachtete ihn verblüfft, unsicher, ob er nicht einen Scherz mit ihr treibe. »Ich dachte, du kennst dich aus. Bis hierher warst du dir doch so sicher.«
Hatte er nicht zugehört? Sein Blick irrte von ihr weg. Groß und entleert starrten seine Augen in die Ferne. Sie schienen nichts wahrzunehmen. Seine Lippen verharrten halbgeöffnet in einer unerhörten Spannung. Lächelte er? Worüber? War er sich seiner Worte bewußt?
»Es muß da sein. Es ist näher als jemals zuvor. Der Weg. Er zeigte mir den Weg.« Sein Blick senkte sich auf sie. »Klingt komisch, was? Aber ich spüre ihn ganz deutlich.« Wieder ging sein Blick über sie hinweg, irrte umher in der Düsternis zwischen den Felsen.
»Was hast du?« fragte sie. »Wie geht es jetzt weiter?«
Er nahm sie beim Arm. »Gehen wir dort hinüber. Dort befindet sich etwas, was ich kenne.«
Sie überließ sich seiner Führung. Was hätte sie tun sollen? Unbeirrbar durch Felstrümmer, die ihnen die Sicht versperrten, Rinnen und Schluchten, zu deren Überwindung sie notwendig vom Weg abweichen mußten, Felskegel, die es zu umgehen

Weitere Kostenlose Bücher