Stone Girl
Rebecca, »das habe ich gemerkt.«
»Ich wusste nicht, dass du das mitgekriegt hast«, meint Sethie.
»Ich habe dich beobachtet.«
Sethie nickt. Erst jetzt, da ihre Mutter sagt, sie habe sie beobachtet, wird ihr klar, dass sie sich vor ihr versteckt hat.
»Ich ruiniere dir noch deinen Pulli«, sagt Sethie, löst sich aus der Umarmung und tritt einen Schritt zurück.
»Ist mir egal«, antwortet Rebecca und Sethie merkt, dass ihre Stimme zittert.
»Du klingst nervös«, sagt Sethie.
»Das bin ich.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, das Gespräch, das ich gleich mit dir führen werde, ist eins von diesen sehr wichtigen Gesprächen.«
»Wieso?«
»Weil ich dir eins sagen muss: Ich weiß, dass du nicht mehr ohne Valium schläfst. Ich weiß, dass du kiffst. Und ich weiß auch, dass du nichts mehr gegessen hast.«
»Ich habe gegessen«, antwortet Sethie schwach und wie aus einem Reflex heraus.
»Nicht genug.«
»Nicht genug«, wiederholt Sethie und überrascht sich selbst damit.
»Ich denke, du brauchst Hilfe, das muss ich dir sagen. Und wenn du nicht meiner Meinung bist, werde ich dir leider sagen müssen, dass mir das egal ist.«
»Meine Meinung ist dir egal?«
»Wenn du meinst, dass du keine Hilfe brauchst, dann ja. Obwohl …«, unterbricht Rebecca sich, »… es ist mir ganz und gar nicht egal, wenn du mir das sagst. Es trifft mich ins Herz. Denn wenn du mir das sagst, weiß ich, dass es sogar noch schlechter um dich steht, als ich bislang angenommen habe. Also möchte ich jetzt von dir wissen: Glaubst du, du brauchst Hilfe?«
Sethie denkt über die Frage nach. Sie entfernt sich ein paar Schritte von ihrer Mutter und geht zur Couch. Sie setzt sich hin. Sie denkt darüber nach, wie ihr Leben war, bevor sie mit Shaw ausgegangen ist. Sie denkt über das Leben nach, das sie gerne führen würde, wenn sie mit Ben ausginge oder zumindest mit einem Jungen wie Ben. Ein Junge, der nett ist, ein Junge, der sie begehrt. Sie denkt darüber nach, wie es wäre, mit Janey auf die Columbia zu gehen und was sie dafür wohl brauchen würde. Sie denkt über die letzten beiden Wochen nach, sie denkt darüber nach, wie viele Monate oder gar Jahre ihres Lebens sie damit verbracht hat, ihren Körper zu hassen. Sie denkt daran, wie Matt auf ihr gelegen hat, ein netter Junge, mit dem sie nicht hätte schlafen sollen. Sie denkt an Alice, die bläuliche Färbung ihrer Finger, die hässlichen Schulterblätter auf ihrem Rücken. Sethie wirft ihrer Mutter einen Blick zu.
»Du siehst müde aus«, sagt sie.
»Ich bin müde«, antwortet Rebecca.
»Wegen mir?«
Rebecca nickt. »Es ist anstrengend, so viel Angst zu haben«, meint sie und lächelt beinahe.
Sethie nickt ebenfalls. Sie sieht die Furcht auf Rebeccas Gesicht, erinnert sich daran, wie maßlos schockiert Janey zurückgeschreckt ist, als sie sah, wie Sethies Hüftknochen zwischen ihrem T-Shirt und den Boxershorts hervorblitzten, erinnert sich an Bens erschütterten Gesichtsausdruck, als sie sich das letzte Mal trafen. Sie weiß nicht mehr, wann sie Janey das letzte Mal gefragt hat, wie es bei ihr in Englisch läuft, wann sie Ben das letzte Mal gefragt hat, ob er seine Verbindungskumpel inzwischen überzeugt hat, ihn nicht mehr als Handwerker zu missbrauchen. Sethie weiß nicht, wann sie so selbstsüchtig geworden ist.
Dann denkt sie an das lebhafte Mädchen, das mit Ben telefoniert, das Mädchen, das mit Janey gelacht hat, das Mädchen, das selbstbewusst seinen Eignungstest abgelegt und seine Collegebewerbungen ausgefüllt hat. Sie denkt an die Umschläge mit den Zusagen in ihrem Briefkasten, denkt daran, dass sie Laken und Kissen für ihr Zimmer im Studentenwohnheim kaufen will. Es klingt einfach, aber die Wahrheit ist, dass sie sich nach all diesen Dingen sehr viel mehr sehnt als danach, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen, ja vielleicht will sie es sogar mehr als abzunehmen.
»Nun«, sagt Sethie endlich. »Ich glaube, irgendetwas brauche ich.«
Rebecca lächelt. »Das ist ein Anfang.«
Ja, denkt Sethie, das ist ein Anfang.
ANSTELLE EINES NACHWORTS
Lieber Leser,
dies ist das Buch, das ich schon lange schreiben wollte. Und es ist auch das Buch, das ich nie schreiben wollte. Und doch habe ich immer gewusst, irgendwann würde ich mich an ein Buch setzen, in dem die Hauptfigur eine Art Essstörung hat, vor allem, wenn ich weiterhin vorhatte, für junge Erwachsene zu schreiben. In meiner eigenen Jugend war ich lange selbst vom Essen und vom Dicksein besessen. Als die
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