Stone Girl
Leute, die mich von damals kannten, hörten, dass ich für Teenager schreibe, fragten sie mich, ob ich nicht auch mal etwas über Essstörungen schreiben würde. Ich habe immer Nein gesagt. Ich wollte nicht darüber schreiben. Denn erstens wusste ich, wenn ich mich darauf einließ, würde ich wahrscheinlich auch über meine eigene Vergangenheit schreiben müssen – und ich bin ein eher introvertierter Mensch –,und abgesehen davon bin ich zum jetzigen Zeitpunkt auch ganz bestimmt nicht stolz auf die lange Zeit, die ich mit meinen ach-so-wichtigen Körperproblemen vergeudet habe. Und zweitens: Noch ein Buch über Bulimie und Magersucht? Wer will das schon lesen? Ich wollte nur darüber schreiben, wenn ich wirklich glaubte, etwas zu sagen zu haben, oder zumindest glaubte, es auf eine neue Art sagen zu können.
Und nun hoffe ich, dass es mir gelungen ist. Ich hoffe, dass ich mit der dritten Person und dem kleinen bisschen Magie, das ich in Sethies Welt eingestreut habe, etwas Neues zum Ausdruck bringen konnte. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass es feine Abstufungen von Essstörungen gibt und dass sie auch in einem geselligen, ja sogar freundschaftlichen Umfeld entstehen können. Denn obwohl Sethie nie so krank sein wird, dass sie nur noch neununddreißig Kilo wiegt, ist sie in Bezug auf ihr Essen und ihren eigenen Körper doch immer noch schrecklich verwirrt und mit Problemen belastet. Wahrscheinlich ist die Geschichte über das magersüchtige Mädchen, das nur noch neununddreißig Kilo wiegt, tragischer und wichtiger als die Geschichte um ein Mädchen wie Sethie. Doch ich glaube, Sethies Erfahrungen sind die gängigere Geschichte, und genau deshalb ist es die Geschichte, die ich erzählen wollte. Ich wollte zeigen, dass in Sethies Welt noch sehr viel mehr nicht in Ordnung ist als nur das Verhältnis zu ihrem Körper. Dass ihre Welt immer kleiner wird, je tiefer sie sich in die Krankheit hinein begibt.
Ich habe mit Stone Girl begonnen, als ich gerade zur Hälfte mit einem anderen Buch fertig war. Doch nach einer Weile habe ich Stone Girl wieder zur Seite gelegt. Als ich erneut ans Werk ging, dachte ich, ich würde das Buch vielleicht nur für mich schreiben, dass es vielleicht nie veröffentlich würde. Vielleicht schrieb ich es einfach nur, um mich endlich davon zu befreien – von diesem Buch über Magersucht, das ich schreiben musste . Ich dachte, wenn ich es erst einmal beendet hätte, könnte ich wieder zu erstrebenswerteren Themen übergehen, zu etwas, das ich vielleicht wirklich mit anderen teilen will.
Es war nicht einfach, dieses Buch zu schreiben. Ich mochte Sethie so gerne und fand es furchtbar, sie mit so vielen schrecklichen Dingen konfrontieren zu müssen. Manchmal hatte ich Angst, mich in den dunklen Schatten zu verlieren, die ich in meiner Erinnerung heraufbeschwören musste, um über Sethie zu schreiben. Und dann wieder fühlte ich mich wie eine Betrügerin, weil ich mittlerweile so weit von diesen Schatten entfernt war, dass ich dachte, gar nicht mehr ehrlich darüber schreiben zu können. Ich hatte Angst, zu viel vergessen zu haben, zu viel unerwähnt zu lassen. Es gab viele Dinge, an die ich mich während des Schreibens erinnert habe und die mich überrascht haben, und auch einige – viele –, für die ich mich geschämt habe.
Sethies Figur ist nicht einfach mit mir gleichzusetzen. Ich war nie so krank wie Sethie und nie wirklich in denselben Situationen. Aber ich kann nicht an die Zeit in meinem Leben zurückdenken, die sich von meinen späten Teenagerjahren bis in meine frühen Zwanziger gezogen hat, ohne an meine Probleme mit dem Essen zurückzudenken, an das Gefühl dick zu sein, an meinen schrecklichen Freund (der, zu seiner Verteidigung, manchmal auch ein guter Freund war) und an ein paar meiner recht komplizierten Freundinnen. Sethies Geschichte ist nicht meine eigene, aber es ist eine Geschichte, die ich erzählen musste, und ich hoffe, es ist eine, die du lesen möchtest.
Alyssa B. Sheinmel
DANKSAGUNG
Ich hatte Alice Hoffmans Roman Blackbird House gerade halb durchgelesen, als ein Bild vor meinem inneren Auge erschien: ein Mädchen, unbewegt wie ein Stein, das neben einer Toilette kauerte. Sie hätte eines von Hunderten, ja Tausenden Mädchen sein können, die sich immer wieder dazu zwingen, sich zu übergeben. Sie hätte ich sein können, in einer bestimmten Phase meines Lebens, in der ich nicht das Gefühl hatte, gegen mein besseres Wissen zu handeln, wenn ich mir die Finger in
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