Stone Girl
bedacht, jeden Löffel ordentlich voll zu machen, dass sie für eine Portion Joghurt mit Müsli zwanzig Minuten braucht. Manchmal putzt sie trotzdem den ganzen Joghurt weg, und dann kommt sie sich vor wie eine Versagerin. Es ist fast schon lustig, denkt sie: Kleine Kinder werden von ihren Eltern gelobt, wenn sie den Teller leer essen. Sie kann sich nicht daran erinnern, wann sie das genaue Gegenteil zu ihrem Ziel erklärt hat.
Es könnte sein, dass ihr Vater anruft. Kurz vor den Ferien hat sie das letzte Mal mit ihm gesprochen. Er sagte, er habe ihr einen Weihnachtsscheck geschickt. Das sei ja wohl eher ein Chanukka-Scheck, meinte Sethie, und er lachte. Sethie lachte ebenfalls. Sie wusste zwar nicht genau, was daran so lustig war, aber es erschien ihr einfacher zu lachen, als zuzugeben, dass sie und ihr Vater sich eigentlich nicht besonders gut kannten. Fast ein Jahr lang hat sie ihn nicht mehr gesehen. Weil sie den Sommer lieber mit Shaw hatte verbringen wollen als in Kalifornien mit ihrem Dad.
Sie stellt sich vor, wie der erste Schultag dieses Jahr gewesen wäre, wenn die Lehrer einen Aufsatz mit dem Titel »Meine Sommerferien« von ihnen verlangt hätten, so wie früher in der Grundschule. Sie stellt sich einen Aufsatz vor, in dem es um Bettlaken geht, die nach Hasch und Sex riechen, weil Sethie und Shaw nicht wussten, wie die schicke Waschmaschine im Landhaus seiner Eltern in Gang zu bringen war. Sie glaubt, sie hätte einen ganzen Aufsatz darüber schreiben können, wie sie sich die Cracker eingeteilt hat, wie jeder einzelne, den sie sich genehmigte, geschmeckt und was für eine Konsistenz er gehabt hat. Und wie schuldig sie sich gefühlt hat, wenn sie mehr gegessen hat, als sie eigentlich sollte.
Sethie beschließt, ihren Akku nicht wieder leer werden zu lassen. Wenigstens weiß sie dann, dass Ben nicht anruft. Und die anderen Anrufe kann sie überprüfen.
Janey meldet sich jeden Abend um sieben und manchmal noch um zehn. Sie hat sogar versucht, sie im Aufenthaltsraum der Seniors zu erwischen. Sethie weiß das aufgrund der vielen Nachrichten, die man ihr auf die weiße Kunststofftafel neben der Telefonkabine gekritzelt hat: Sethie, Janey hat angerufen; Sethie, melde dich bei Janey; Sethie, Janey wollte dir Hallo sagen.
Sethie kann sich nicht erinnern, Janey je die Nummer der Telefonkabine des Senior-Aufenthaltsraums gegeben zu haben, aber wahrscheinlich war es ihr ein Leichtes, sie ausfindig zu machen. Bestimmt sind x Leute von Janeys Schule mit Mädchen in der White befreundet, die ihnen irgendwann mal die Nummer gegeben haben. Oder einige ihrer Mitschülerinnen haben dort feste Freunde. Inzwischen weiß Sethie, dass viele Leute diese Worte – fester Freund und feste Freundin – tatsächlich benutzen. Sethie glaubt, dass Janey nur auf gut Glück anruft, weil Sethie früher oder später ja mal diejenige sein muss, die den Hörer abnimmt.
Manchmal kann Sethie bei den Nachrichten, die Janey ihr auf der Mailbox hinterlässt, Dougs Stimme im Hintergrund hören. Janey muss wohl vom Verbindungshaus anrufen, vom Zimmer über Bens Zimmer. Manchmal denkt Sethie, dass Ben ebenfalls mit im Raum sein muss, wenn Janey sich meldet, und dass er ihr erzählt hat, wie Sethie sich ihm an den Hals geworfen hat, dass er mit diesem kaputten Highschool-Mädchen von der Upper East Side nichts mehr zu tun haben will.
Dementsprechend sollte es Sethie eigentlich nicht überraschen, als Janey eines Samstagmorgens, zwei Wochen nach Schulbeginn, bei ihr im Zimmer steht. Sethie liegt noch im Bett unter der Decke. Sie schläft nicht, liest nicht und schaut auch nicht fern. Sie denkt nicht mal nach. Sie starrt einfach nur an die Decke, als würde sie darauf warten, dass endlich etwas passiert. Und Janeys plötzliches Auftauchen ist ganz sicher etwas, denkt sie.
»Hey«, sagt Janey.
Sethie rollt sich auf die andere Seite, um Janey anzusehen. Schnee schmilzt langsam auf ihren Haarspitzen, als wäre sie mit einer Mütze auf dem Kopf zu ihr herübergelaufen und ihre Haarspitzen hätten darunter hervorgeguckt.
Sethie wusste nicht, dass es geschneit hat, ihre Rollos sind ganz heruntergelassen. Diesen Winter hat es bislang noch nicht geschneit, noch nicht ein einziges Mal. Sie hat die schiere Möglichkeit von Schnee oder auch Regen ganz vergessen. Sie hat sich so darauf konzentriert, sich warm zu halten und sich auszukühlen, dass es ihr gar nicht in den Sinn gekommen wäre, zu versuchen, nicht nass zu werden.
»Klopfst du nie
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