Strafbataillon 999
schweres Schweigen, nur Krülls Schritte über den knarrenden Boden und hin und wieder sein verächtliches Schnauben durch die Nase waren zu hören. Niemand rührte sich: Zweiundzwanzig Männer lagen lang ausgestreckt auf dem Rücken, mit den feuchtriechenden Decken bis zum Kinn zugedeckt, die Arme an den Körper gedrückt, Knie und Füße zusammengepreßt – gewissermaßen ›stillgestanden‹ im Liegen – und warteten auf das Unausweichliche. Aus der Ecke kam das schwere, rasselnde Atmen des Schützen Reiner, gewesenen Dr. Friedrich Reiner, Rechtsanwalt in München, seit 1939 Insasse des Konzentrationslagers Dachau, seit Frühjahr 1943 zum Strafbataillon 999 begnadigt: Er litt an Asthma.
Als Krüll meinte, Schütze Stubnitz sähe kariert genug aus, begann er mit der Spindkontrolle. Aus dem ersten warf er nur das Waschzeug auf den Boden, den zweiten leerte er ganz aus, den dritten und vierten ließ er stehen, aus dem fünften warf er die Wäsche, den sechsten räumte er ganz aus.
Dabei sagte er immer noch nichts.
Der siebente Spind gehörte Karl Schwanecke.
Als Krüll ihn öffnete, prallte er zurück: Der Spind war tatsächlich eine Katastrophe. Das einzige, was ordnungsgemäß, das heißt, in militärischer Ordnung angebracht war, waren Bilder nackter Mädchen auf der Innenseite der Tür.
Krüll unterdrückte seine Neugierde, beschloß gleichzeitig, sich die Bilder einmal in Ruhe anzusehen, und jagte die Männer aus den Betten. An sich hatte er vorgehabt, vor der Gymnastik auf dem nachtdunklen Kasernenhof noch die Füße der Liegenden anzusehen. Er verzichtete darauf und ließ dafür alle zweiundzwanzig an Schwaneckes Spind im Paradeschritt vorbeimarschieren und ›die Augen links‹ machen.
Dann jagte er sie auf den Hof.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde: Komisch anzusehende, in ihrer unfreiwilligen Komik tragische Männergestalten in kurzen Nachthemden, mit klappernden Holzpantinen an den Füßen, jagten aufgescheuchten, weißen Nachtvögeln gleich über den Kasernenhof, übten Entengang, Hasensprünge, Froschhüpfen.
Als es zu Ende war, waren drei Männer dem Herzzusammenbruch nahe: der asthmatische ehemalige Rechtsanwalt, Deutschmann und von Bartlitz; andere waren nur noch halb ohnmächtige, wankende, leichenblasse, schwitzende, mit Dreck bespritzte Gespenster. Alle, außer Schwanecke: Schwanecke machte es anscheinend nichts aus. Er grinste und verfluchte grinsend den Oberfeldwebel und mußte deshalb einige Extrarunden drehen. Aber das Grinsen verging ihm nicht. Es verging ihm nie, auch später nicht.
Dann kam noch eine gute Stunde Waschen und Stubenreinigen, und so war es elf vorbei, als sie endlich in den Betten lagen, mit einiger Aussicht, die Nacht ungestört durchzuschlafen.
Ernst Deutschmann lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und zwang sich, ruhig, tief und gleichmäßig zu atmen. Sein Herz raste. Langsam wurde es besser, das Schwindelgefühl verflog, zurück blieb nur eine schwere, lähmende Schwäche, die seinen Körper zu einem reglosen Bleiklumpen machte.
Im Bett daneben lag der Bauer Wiedeck, der Mann, den er im Militärgefängnis in Frankfurt an der Oder kennengelernt hatte. Er war sein Zellengenosse gewesen, schweigsam, mürrisch, verschlossen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, obwohl sie stets zusammen waren: in der Zelle, auf dem täglichen Spaziergang im Gefängnishof und in der Werkstatt, wo sie die Sohlen der Militärstiefel mit Nägeln beschlugen. Freunde waren sie erst geworden, als ein Feldwebel, dem Deutschmanns Gesicht nicht paßte, in der Mittagspause einige Kisten voller Nägel umwarf und Deutschmann befahl, sie wieder einzusammeln. Wiedeck hatte ihm dabei geholfen, wortlos, verbissen, finster.
»Wie geht's?« hörte er jetzt Wiedeck flüstern.
»Besser«, flüsterte er zurück.
Schweigen.
»Verfluchte Schweine!« flüsterte Wiedeck nach einer Weile.
»Mach dir nichts draus«, sagte Deutschmann.
Und wieder Stille. Und dann:
»Woran denkst du?«
»An Julia«, sagte Deutschmann.
»Ich auch. An Erna. Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Ich habe zwei. Nein, jetzt sind's drei.«
»Maul halten!« kam von irgendwoher eine Stimme.
Und dann begann Erich Wiedeck zu erzählen. Leise, flüsternd, mit langen, schweigenden Pausen, ungelenk, nach Worten suchend. Und trotzdem wuchs vor den Augen des still liegenden, lauschenden Deutschmann eine Welt empor, die ihm bisher fremd geblieben war. Er hörte das schwere Atmen des Asthmatikers und das Schnarchen Schwaneckes nicht
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