Strafbataillon 999
es war gerecht, es war nach dem Stand der heutigen Wissenschaft gehalten. Als Sachverständiger vor Gericht können Sie nicht mit Möglichkeiten operieren, mit Annahmen, mit Hypothesen.«
»Wir haben doch gute Ergebnisse erzielt …«
Dr. Kukill hob die Hand leicht an. »Wieviel Versuchsreihen haben Sie durchgeführt?«
»Etwa dreißig.«
»Und dabei wollen Sie von guten Ergebnissen sprechen? Sie als Ärztin? Aber lassen wir das. Wie sieht – oder wie sah die Sache aus?« Er legte die Finger gegeneinander und betrachtete Julia sinnend. Er war nur halb bei diesem Gespräch, das sinnlos war, nutzlos, ermüdend: Ernst Deutschmann war nicht zu helfen. Und einen Augenblick lang dachte er überdrüssig daran, daß er nur seine Zeit vergeude. Aber – sie war hübsch, elegant, gepflegt und mutig. Nein, mehr: Sie war schön. Von ihr ging ein eigentümlicher Zauber aus, wie man ihn bei einer schönen Frau nur selten findet, eine Mischung aus Klugheit, Zielstrebigkeit, reinem Willen und Hilflosigkeit. Was wünscht sich ein Mann mehr? dachte er, ein wenig neidisch auf Ernst Deutschmann. Was wird aus ihr, wenn er im Strafbataillon umkommt? Und während er nach Worten suchte, um sie von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen zu überzeugen, dachte er, daß sie eine hübsche, schöne Witwe werden würde – aber bestimmt keine lustige. Das heißt: Sie war schon so gut wie eine Witwe.
»Sehen Sie«, begann er, »betrachten Sie die Sache von unserem Standpunkt. An dem Tage, nachdem Ihr Mann den Einberufungsbescheid bekommen hatte, erkrankte er. Einige Zeit später stellt sich heraus, daß er sich den Eiter eines schwer infizierten Menschen besorgt hat, der todkrank war, und sich damit heimlich infizierte – um angeblich im Selbstversuch die Wirkung eines von ihm gefundenen Gegengiftes genau zu erproben. Eine Infektion mit Staphylokokkus aureus dieser Art zieht eine jahrelange Rekonvaleszenz nach sich, jahrelange Untauglichkeit für den Wehrdienst.« Die letzten Worte sprach er langsam und betont aus. Als Julia nicht antwortete, fuhr er fort:
»Das hat er gewußt. Aber das wissen auch wir: Wegen solcher Infektionen, die meist tödlich verlaufen, haben wir in diesem Krieg Zehntausende verloren. Nun will ich ihm allerdings keine Selbstmordgedanken unterschieben. Es ist durchaus möglich, daß er glaubte, ein – sagen wir Serum gefunden zu haben. Und daß er sich, wie alle ihm ähnlichen – soll ich sagen wissenschaftlichen Fanatiker oder Helden? – infizierte, um seine Entdeckung zu erproben. Das ist es, warum ich meinte, seine Verurteilung könnte ein Irrtum sein: Ein Irrtum, also nicht eine Selbstverstümmelung, um dem Wehrdienst zu entgehen, sondern eben ein bedauerlicher Mißgriff. Allerdings kann ein Militärgericht diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Die Tatsache bleibt, daß er sich selbst verstümmelte. Das allein ist entscheidend.«
»Aber – ich bin überzeugt, ich war die ganze Zeit dabei, ich weiß, daß er auf dem richtigen Wege war. Wir hatten nur so wenig Zeit, es mußte so schnell gehen …«
»Ich schließe auch diese Möglichkeit ein. Aber ein Richter kann es nicht tun. Ich habe Ihnen bereits gesagt: Es gibt kein wirklich wirksames Mittel gegen Infektionen dieser Art. Und ich bezweifle, daß Ihr Mann bei all seinem Talent so genial ist, daß er allein und ohne Hilfe das gefunden hätte, was eine ganze Welt von Forschern seit Jahren umsonst sucht. Das war es, was ich vor dem Gericht ausgesagt habe. Es war und ist meine ureigenste Überzeugung. Welches Interesse sollte ich denn daran haben, Ihren Mann – übrigens, haben Sie es schon mit einer Revision versucht?«
»Ja«, sagte Julia.
»Und?«
»Man sagte mir – es war ein SS-Mann – man sagte mir …«, sprach sie stockend, als fürchtete sie sich vor dem, was sie sagen mußte, oder vor der Erinnerung an den Mann, der es ihr gesagt hatte, »– sollte der Fall Deutschmann in eine Revision gehen, dann stünde am Ende eines neuen Prozesses das Fallbeil.«
Schweigen.
Dr. Kukill zündete sich eine Zigarette an. »Wieso ein SS-Mann?« fragte er dann.
Julia zuckte mit den Schultern.
»Und – was wollen Sie jetzt tun?«
Sie sah ihn an. Ihre Augen waren groß, schwarz, fiebrig. »Kann man nichts tun?« fragte sie leise, mit zitternder Stimme. Sie stand auf, ging um den Tisch, klammerte sich an seinem Oberarm fest, während er hilflos sitzen blieb, erschrocken und wider seinen Willen von ihrem Leid und ihrer Verzweiflung mitgerissen. »Sie
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