Stumme Angst (German Edition)
nicht von dir erwartet. »
Dem Zucken ihrer Mundwinkel nach zu urteilen, ist Audrey nun aufrichtig erzürnt. Auch Noa gerät immer mehr in Rage, was nicht unbedingt typisch für sie ist.
Arne – Anzugheini, Glatzkopf, alter Sack –, etwas an diesem Kerl macht sie von vornherein nervös, und wenn es nur der Umstand ist, dass sie extra seinetwegen eine so weite Anreise auf sich genommen haben, noch dazu auf eine Insel!
Die Empörung saust und kribbelt in Noas Adern, dabei ist ihr die Irrationalität dieser Reaktion durchaus bewusst. Ihre Ablehnung ist mit Sicherheit übertrieben, wenn nicht sogar ungerecht. Sie weiß ja nicht mal, wie der Kerl bei Tageslicht aussieht. Noa mahnt sich zur Ruhe, isst ein pappiges Puten-Sandwich und schaut zu, wie unter ihnen der sonnenverwöhnte Teil Europas dahingleitet. Inzwischen haben sie das Festland erreicht, braune, trockene Felder, weiße Städte, Kirchtürme, spitz wie Eckzähne.
»Du hast doch sonst nicht solche Probleme damit, wenn ich mich mit Männern treffe«, nimmt schließlich Audrey den Faden wieder auf.
»Sonst ist es dir ja auch nicht so ernst.«
Schweigen. Noa kommt nicht umhin, das als Zustimmung zu werten.
»Was ist bei dem anders?«, fragt sie, um einen neutralen Tonfall bemüht.
»So ziemlich alles. Arne ist Architekt und ein Freund von Julian. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben, weil ich im Rahmen der Recherche für eine Kurzgeschichte einige Fragen an ihn hatte. Fragen über Gebäude«, sagt sie, als würde das alles erklären.
»Und dann?«
»Dann haben wir angefangen, miteinander zu telefonieren. Erst wegen meiner Wissenslücken, dann wurde es immer privater. Er hat eine sensationelle Stimme, weißt du.«
»Dann hättet ihr vielleicht beim Telefonieren bleiben sollen.«
»Ach, Noa.«
»Aber das wolltet ihr natürlich nicht.«
»Ganz genau.«
»Seid ihr euch gestern zum ersten Mal richtig begegnet?«
Audrey nickt.
Die Frage, ob es gefunkt habe, spart sich Noa. Es ist offensichtlich. Audrey wirkt verändert, müde, aber auch auf eine neue Art glücklich. Sie hat ihre kurz geschnittenen Haare nicht wie sonst sorgfältig gestylt – was bei ihr bedeutet, dass das Glätteisen ausgiebig zum Einsatz kommt –, sondern trägt ihren schokobraunen Wuschelkopf so chaotisch, wie er von Natur aus wächst. Soll heißen: Sie sieht aus, als wäre sie so, wie sie ist, aus dem Bett gestiegen. Aus seinem Bett vermutlich, denn ihr Zimmer war ja anderweitig belegt.
»Mach dir keine Gedanken«, versichert Audrey. »Es kann schon sein, dass es ernst wird mit uns, aber nicht so bald. Wir wollen uns Zeit lassen. Ich habe ihm von dir erzählt, er weiß, wie ich lebe und dass meine Entscheidungen nicht nur mich allein betreffen. Abgesehen davon muss ich mich jetzt erst mal um mein neues Buch kümmern. Ich habe da so eine Idee im Kopf, die wird richtig Furore machen, das habe ich im Gespür. Und dann steht der Winter vor der Tür, das ist sowieso die falsche Zeit für Frühlingsgefühle.«
Noa würde ihrer Schwester gern glauben. Audrey ist ein Vernunftmensch. Jedenfalls behauptet sie das von sich, und bislang hatte Noa selten Grund, daran zu zweifeln. Aber in dieser Angelegenheit vertraut sie eher ihrem Bauchgefühl. Es flüstert ihr ein, dass alles ganz anders kommen wird.
Warum schreibt jemand ein Buch? Weil er es kann. Um das eigene Leben zu rechtfertigen. Um den Wahnsinn auf Distanz zu halten, ihn dorthin zu verbannen, wo er keinen Schaden anrichten kann. Papier ist geduldig. Menschen sind zerbrechlich. Es gibt noch andere Gründe, aber das sind die drei wichtigsten, und sie treffen absolut auf mich zu.
Na, wirst du schon kribbelig?
Willst du, dass es endlich richtig losgeht?
Nur mit der Ruhe.
Stell dir als Nächstes einen Laserstrahl vor, sein kaltes Leuchten zum Himmel gewandt. Ein grünes Florett, das die Nacht abtastet, von seinen Erfindern, emsigen Troposphärenforschern, Polly getauft. Polly ist auf der Suche nach Staub aus der Ferne, Wüstenstaub zum Beispiel, ihre Laserimpulse werden von den winzigen Schwebeteilchen reflektiert – daher die Fluoreszenz, das grüne Licht. Polly leuchtet wie wild in diesen Tagen. Denn die Sahara streckt ihre Fühler weit nach Norden aus. Das kann man, sobald es hell wird, auch mit bloßem Auge erkennen: eine dicke Schicht rötlicher Schmutz hat sich auf den Autodächern abgelagert, und der Himmel trägt ein milchiges Gewand, das die Sonne verhüllt, später am Tag sieht es dann plötzlich nach Gewitter aus. Wie
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