Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
sich vor den wiederkehrenden Albträumen fürchtete, diesen ungebetenen Gästen, die sich nicht leicht vertreiben ließen. In diesen Träumen durchlebte sie stets aufs Neue jenen Tag, an dem die Nekromanten die Schule im Regenbogental angegriffen hatten.
Allein bei der Erinnerung stieg ihr der Geruch nach Feuer, Blut und einem heraufziehenden Gewitter in die Nase, hörte sie die Schreie ihrer Freunde, die ebenso verängstigt und bleich waren wie sie selbst, sah sie, wie die Nekromanten durch die leeren, staubigen Gänge eilten, spürte sie den Schmerz, als die Feinde den dunklen Funken anriefen. Selbst jetzt meinte Algha, jemand schleife mit einer groben Feile ihre Knochen.
Und jedes Mal hörte sie im Traum wieder die Nekromantin, die sie in dem Raum voller Truhen aufgespürt hatte und von ihr verlangte: »Komm lieber freiwillig heraus, dann könnte die Sache durchaus glimpflich ausgehen.«
Wieder und wieder biss sie die Zähne zusammen und kämpfte verzweifelt wie eine Katze um ihr letztes Leben. Dabei musste sie die Nekromantin stets auf neue Art und Weise besiegen, weil jede bisherige beim zweiten Mal keinen Erfolg mehr zeigte.
Trotzdem tötete Algha ihre Feindin ein ums andere Mal. Nachdem sie im Traum Dutzende von Zaubern versucht und Hunderte von Geflechten verworfen hatte, schien es ihr mitunter, als übe sie sich in diesen Nächten weit stärker in Magie als während der gesamten Zeit im Regenbogental. Kaum suchte ein neuerlicher Albtraum sie heim, schuf ihr Hirn geradezu wahnwitzige Zauber, die ihr jedoch immer besser gerieten.
Allerdings hätten die meisten von ihnen ihr im wirklichen Leben wohl kaum geholfen. Stark wie sie waren, hätten sie ihren Funken vermutlich vollständig verbrannt. Eine junge Frau, die erst vor wenigen Monaten ihre Ausbildung zur Schreitenden beendet hatte, verfügte nun einmal nicht über die Erfahrung, solche Zauber einzusetzen, ja, einige der Geflechte dürften ohnehin nur von Ceyra Asani oder ihren engsten Vertrauten angewendet werden können.
Zuweilen träumte Algha aber auch von ihrer Kindheit, dem Haus in Korunn, ihren Eltern und ihrer älteren Schwester. Im Traum war alles wie früher, bevor sie ins Regenbogental gegangen war – nur der Pfirsichgarten, den sie so liebte, war aus unerfindlichen Gründen abgeholzt worden, und die Kirschbäume hatten uralten Kastanien mit eisig-feurigen Blättern weichen müssen. Doch auch diese harmlosen Träume brachten sie – ohne dass sie je bemerkt hätte, wie – in jenen Raum mit all den Kisten. Und dann erklang die Stimme mit dem angenehmen östlichen Akzent: »Komm lieber freiwillig heraus, dann könnte die Sache durchaus glimpflich ausgehen.«
Wenn sie aus einem solchen Traum erwachte, galt ihre erste Sorge Dagg und Mitha. Ob sie sich hatten retten können? Gehört hatte sie nichts von ihnen, sodass sie nur hoffen konnte, ihre Freunde hätten den Angriff auf die Schule ebenfalls überstanden. Zwei Tage lang hatte sich Algha in dem Viertel der Händler versteckt und auf die anderen gewartet. Doch niemand war gekommen …
An die Herrin Gilara dachte sie lieber gar nicht erst. Tief in ihrem Herzen wusste sie jedoch, dass ihre Lehrerin gestorben war.
Nach zwei Tagen hatte sie das Regenbogental verlassen, um nach Loska zu gehen. Als sie die Stadt endlich erreicht hatte, musste sie die nächste böse Überraschung verkraften: Die Schreitenden hatten sich nach Burg Donnerhauer begeben, der Turm gab den Süden preis und stellte sich im Norden dem Kampf.
In der Stadt machten allerlei Gerüchte die Runde. Eines besagte, mehrere Einheiten der Nabatorer rückten gegen Loska vor, um den letzten Hafen im Süden des Imperiums einzunehmen. Obwohl Algha im Grunde nichts auf dieses Geschwätz gab, wollte sie sich doch nicht leichtsinnig irgendeiner Gefahr aussetzen. Deshalb verließ auch sie Loska, trat den Weg durch die Berge in Richtung von Burg Donnerhauer an.
Ihre einzige Hoffnung bestand darin, zu anderen Schreitenden vorzustoßen.
»Und morgen habe ich es geschafft«, murmelte sie verschlafen. »Dann erreiche ich die Burg, dann bin ich nicht mehr allein.«
Kurz darauf erbarmte sich ihrer der Schlaf – nur um ihr den Traum von leeren Gängen im Regenbogental zu bescheren.
Kapitel
2
Ein zartes Klopfen an der Tür weckte Algha. In den ersten Sekunden wusste sie allerdings nicht, wo sie eigentlich war.
»Herrin!«, rief die Magd, »Bruder Lereck hat mich gebeten, Euch zu wecken. Das Frühstück ist fertig.«
»Danke, ich bin
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