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Giftschatten

Giftschatten

Titel: Giftschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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    GIFTSCHATTEN
    L ióla hätte nie geglaubt, dass sie ihren gnadenlosen Ausbilderinnen einmal dankbar wäre. Sie hatte die bösen Augen immer gefürchtet, die sie während der endlosen Unterweisungen in den Ritualen des Kults beobachtet hatten. Dünne Ruten hatten ihre helle Haut geküsst, immer und immer wieder, wenn auch nur eine Bewegung von den exakt vorgeschriebenen Bahnen abgewichen war oder die Sequenz eines Singsangs einen winzigen Augenblick zu spät eingesetzt hatte. Aber jetzt dankte sie ihren ungnädigen Herrinnen. Auch wenn dies der erste Auftrag war, den die Seelenbrecherin allein ausführte, zitterte ihre Hand kaum noch, als sie nach den Anrufungen den glimmenden Span in das Räucherwerk steckte. Der vertraute, dutzendfach eingeübte Ablauf gab ihr Halt, als befände sie sich in einem Gewölbe unter der Kathedrale von Karat-Dor, gemeinsam mit anderen Adeptae. Als wäre sie jetzt im Herzen des Kults und nicht hier, sieben Tagesreisen entfernt. Mit gemessenen Schritten ging sie rückwärts und setzte sich. Ihre Unsicherheit schwand vollends, als sie die Nervosität auf Sunnas Gesicht sah.
    Der älteren Frau, knapp vierzig Jahre mochte sie gesehen haben, war äußerst unwohl in Liólas Gegenwart, und das gab Lióla Kraft. Zwar war sie allein in dieses Dorf gekommen, fast noch ein Mädchen, so feingliedrig, dass man sie stets zu jung schätzte. Auch der gewellte Dolch an ihrem Gürtel änderte nichts daran, dass so ziemlich jeder Erwachsene sie hätte überwältigen können. Die schwarze Robe jedoch schützte sie. Das Kleidungsstück zeigte, dass sie im Auftrag des Kults reiste, und dies flößte jedem Respekt ein.
    »Beginnen wir«, bestimmte Lióla und war zufrieden, dass es ihr gelang, die feste Stimme von Dunkelruferin Oliega zu imitieren. Bedeutungsschwanger sah sie in den aufsteigenden Rauch. »Die Schatten legen sich über die Welt. Sie decken alles zu, verhüllen unsere Taten vor den Augen der Schwachen. Doch jenem, der sich ihrer würdig erweist, offenbaren sie, was er zu wissen begehrt.« Sie fixierte Sunna. »Auch, wenn es Jahrzehnte zurückliegt.«
    Sunnas Blick huschte zu Birros, ihrem Sohn. Lióla hatte sich ihn älter vorgestellt, aber er war höchstens fünfzehn. Die beiden saßen so, dass sie gleich weit voneinander und von Lióla entfernt waren. In der Mitte des dadurch gebildeten Dreiecks brannte das Räucherwerk. Sie befanden sich in der Küche von Sunnas Haus, dem besten im Dorf, schließlich war sie die Vorsteherin. Natürlich war es immer noch schäbig im Vergleich zu der Kathedrale, in der Lióla den größten Teil der vergangenen Jahre verbracht hatte.
    Sunna zwinkerte, löste den Blick von ihrem Sohn, der in die Glut starrte, und sah wieder Lióla an.
    Ich ahne, was du jetzt fragen willst , dachte Lióla. Ob wir dieses Verhör nicht führen können, ohne dass dein Sohn dabei ist.
    Aber Sunna schlug nur ergeben die Augen nieder. »Wo soll ich beginnen?«
    »Fang einfach an. Ich werde dich dorthin bringen, wohin ich dich haben will.«
    Sunna schluckte. »Als mein Bitten, den Schatten meine Hingabe beweisen zu dürfen, erhört wurde, rief man mich in den Tempel. Zur Vorbereitung auf meine Aufgabe sollte ich das Siegel der Finsternis empfangen, damit ich den Dienern Ondriens zeigen könnte, in wessen Auftrag ich handelte. Man brachte mich in den Keller.«
    »Weiter.«
    Sie drückte die Knie gegeneinander. Dennoch sah Lióla ein Zittern in den Waden. Die Erinnerung schien sie noch immer zu quälen, am liebsten wäre sie fortgerannt. Lióla saß unbewegt, die Hände flach auf die Oberschenkel gelegt, und verbarg ihre Faszination. In der Kathedrale wusste man, dass ihre Augen loderten, wenn Menschen gemartert wurden oder solche Vergnügungen auch nur in Aussicht standen, aber die beiden hier kannten sie nicht gut genug, um solche subtilen Anzeichen deuten zu können.
    »Dort in der Dunkelheit war etwas. Es gehörte nicht zur Welt des Greifbaren. Ein Wesen aus Finsternis. Selbst in der Lichtlosigkeit konnte ich es daran erkennen, dass es dunkler, schwärzer war als seine Umgebung. Ich hatte erwartet, dass man mich mit einem Messer zeichnen würde, vielleicht auch mit einem Brandeisen. Aber die Kreatur kam über mich wie …« Nochmals schluckte sie. »Wie ein Mann. Ein Mann, der seine Begierde mit Gewalt befriedigt.«
    Lióla tat, als würde sie die Wahrheit dieser Aussage an den Formen des Rauchs überprüfen, der sich unter der Decke sammelte. Es gab keinen Grund, warum die Frau an

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