Sturm über Sylt
Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophia mehr als einmal bedrängt: »Fahr nach Sylt! Versöhn dich mit deiner Familie! Wenn du es wirklich willst, dann zögere nicht mehr! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt! Wer weiß, was kommt!«
Und so war dem Kurdirektor die Nachricht zugegangen, dass man die letzte seiner unzähligen Einladungen nun endlich annehmen wolle. Allerdings unverzüglich! Westerland musste die Vorbereitungen auf das große Ereignis, das Konzert von Aletta Lornsen, in größter Eile treffen.
1904 war sie noch mit dem Plattbodensegler übers Watt gefahren. An Veras Seite! Gemeinsam hatten sie sich auf den Boden gekauert, Aletta mit dem Rücken zur Insel, mit dem Blick zum Festland, ihre Vergangenheit im Rücken, ihre Zukunft vor Augen. Und Vera hatte immer wieder gesagt: »Du musst sie zwingen. Irgendwann werden sie sich zwingen lassen.«
Wenn Aletta die Tränen gekommen waren, hatte sie in die Segel gesehen, auf das große »S« geblickt, das jedes Segel trug, das»S«, das für »Sylt« stand. Aber wenn sie der Tränen Herr geworden war, hatte sie wieder vorausgeschaut. Und Vera hatte erneut gesagt: »Es ist richtig, dass du sie zwingst. Es geht nicht anders.«
Die Plattbodensegler waren mittlerweile von den Raddampfern abgelöst worden. Von Hamburg nach Hörnum fuhr seit 1905 sogar das große Turbinenschiff »Kaiser«, das für sage und schreibe zweitausend Decksgäste zugelassen war. Aber so viel Neues hatte Aletta nicht gewollt, so viel sollte sich nicht geändert haben seit ihrer Flucht von Sylt. Der Raddampfer war Fortschritt genug. Er näherte sich der Insel langsam und schwerfällig, wie es für sie richtig war, die beiden Schaufelräder links und rechts des Schiffskörpers mühten sich geräuschvoll ab. Es war ein urwüchsiges Vorankommen, nicht so zielstrebig wie auf der »Kaiser«, langsamer, schwerfälliger, aber doch unbeirrt. Das flache, breite Schiff, das durch die Schaufelräder noch breiter erschien, als es war, hatte Aletta sofort Vertrauen eingeflößt. Auch dass der Kapitän sich nicht in einem Steuerhaus verbarg, um seine Arbeit von den Passagieren abgeschirmt zu verrichten, gefiel ihr. Dieses Schiff wurde von der Brücke aus geführt, die nicht nur so genannt wurde, sondern wirklich eine war. Sie reichte von Steuerbord nach Backbord, von einem Radkasten zum anderen und führte über die Köpfe der Passagiere hinweg. Dort stand der Kapitän, Wind und Wetter noch schutzloser ausgesetzt als die Passagiere. Wenn das Wetter jedoch so gut war, ruhig und trocken wie an diesem Tag, dachte jeder nur daran, wie einfach die Fahrt geworden war, seit die Plattbodensegler aus dem Dienst genommen worden waren.
Die Reise nach Sylt war auch in anderer Hinsicht bequemer geworden. Es gab nun durchgängige Bäderzüge von Altona nach Hoyer, der Kutschenbetrieb war völlig eingestellt worden. Schon nach gut vier Stunden war man von Hamburg in Hoyer-Schleuse angekommen, wo die Raddampfer ablegten. Allerdings fuhren sie tideabhängig, nur einmal, höchstens zweimal täglich und nur bei Tageslicht. Doch Ludwig hatte die Reise gut geplant und dafür gesorgt, dass sie in Hoyer nur eine knappe Stunde zu wartenbrauchten, bis sie den Raddampfer besteigen konnten. Eineinhalb Stunden dauerte die Überfahrt nach Munkmarsch, zu wenig Zeit, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, die sich mit dem Entschluss, diese Reise zu wagen, erneut vor Aletta erhoben hatte. So, als hätte ihre Vergangenheit nur in einer Ecke ihres Lebens heimlich auf diesen Tag gewartet, obwohl Aletta geglaubt hatte, dass sie ihre Kindheit und Jugend längst vor die Tür ihres neuen Lebens gesetzt hatte.
Ihr Körper versteifte sich, als die Mole von Munkmarsch in Sicht kam. Sie wickelte den fliederfarbenen Seidenschal fester um den Hals, den sie von Ludwig zur Premiere von Fidelio geschenkt bekommen hatte und der seitdem ihre Stimme wärmte, wie sie es nannte. Ludwig begann, ihre Arme zu streicheln und sanft ihren Nacken zu kneten, aber ihre Haltung veränderte sich nicht, während sie den Menschen, die sich auf der Mole drängten, entgegensah. Sie blieb angespannt.
»Sie werden nicht kommen«, flüsterte Ludwig. »Vielleicht zum Bahnhof, aber sicherlich nicht nach Munkmarsch.«
Ob er recht hatte? Aletta hoffte sogar, dass sie auch am Ende der Inselbahnfahrt nicht auf sie warteten. Wirklich auf Sylt angekommen sein würde sie erst, wenn das Konzert vorbei war. Wenn sie ihren Triumph gefeiert hatte! Wenn alle einsehen
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