Sturm über Sylt
I.
1914
Es war so wie vor zehn Jahren. Der Himmel war genauso blass und durchscheinend, zarte Wolkenschleier verhüllten die Sonne, die nur ein heller Fleck war, von dem keine Wärme ausging. Ein kühler Sommertag! Der Wind hatte auch damals beinahe still gestanden, so wie heute. Er war da, bewegte sich über dem Schiff hin und her, nahm seine Kraft aber nicht aus den Wolken, sondern aus der Fahrt des Raddampfers. Die Geschwindigkeit des Fortbewegens war es, die die Windstärke bestimmte! Aus dem Sturm, der noch vor zwei Wochen gewütet hatte, war dieser kraftlose Fahrtwind geworden. Auf der Insel würde es womöglich windstill sein. Eine Seltenheit! Damals war es ihr vorgekommen, als wollte der Wind sie nicht von ihrer Heimat wegtreiben, jetzt kam es ihr so vor, als wollte er sie nicht willkommen heißen. Oder sollte sie die Angst vor der Rückkehr verlieren, zu der es eigentlich nie hatte kommen sollen?
Sie spürte, dass Ludwig hinter sie trat. Aber sie veränderte ihre Haltung nicht, blieb, an die Reling gelehnt, stehen und drehte sich nicht um. Sie zeigte ihm nur, dass ihr seine Nähe guttat, indem sie leise seufzte.
Aletta Lornsen war eine mittelgroße Frau, schlank, aber nicht zierlich, sondern von kräftiger Statur. Sie hatte braune Haare, in die die Sonne manchmal blonde Tupfer setzte und die bei Dunkelheit, und wenn sie straff zurückgekämmt waren, fast schwarz wirkten. Ihr Gesicht war schmal, ohne zart zu sein, die Nase winzig, ihre Wangen waren flach wie die einer Rekonvaleszentin, diegerade wieder zu Kräften kommt. Doch ihr Mund war breit und lachend, ihre Lippen waren voll und verlockend, die Stirn prägte sich über starken Brauen aus, so dass sie stark und gesund aussah, wenn es ihr gutging, aber auch elend und sterbenskrank wirken konnte, wenn es schwere Tage gab. Ihre Augen waren von einem stumpfen Grau, trugen aber braune und grüne Splitter, die sie interessant und ihren Blick sogar ein wenig rätselhaft machten.
Ludwig sagte oft: »Bei dir hat die Natur nicht gewusst, was sie wollte. An einem Tag solltest du ein zartes, elfengleiches Wesen werden, am anderen eine Frau, die ihren Mann stehen kann. Und am Ende bist du beides geworden.«
Er legte ihr die warme Stola um und umschlang sie mit beiden Armen, um sie zu wärmen. »Freust du dich auf Sylt?«
Aletta wollte nicken und den Kopf schütteln, gleichgültig die Schultern zucken und die Mundwinkel verächtlich herabziehen, alles auf einmal. Aber ihr gelang weder das eine noch das andere. Vorfreude und Angst, Schuldgefühle und Selbstzufriedenheit hielten sich die Waage. Ludwigs Frage war nicht zu beantworten.
»Hoffentlich ist das Hotel komfortabel«, sagte sie stattdessen.
Sie spürte, dass Ludwig lächelte. »›Das Miramar‹ ist das erste Haus am Platz.«
»Die Sturmflut von 1909 soll es schwer ramponiert haben.«
»Das ist fünf Jahre her. Und nicht das Hotel wurde beschädigt, sondern die Düne vor dem Hotel. Sie wurde von dem Sturm weggefegt. Da sieht man, wie leichtsinnig es ist, so nah am Meer zu bauen.«
Aletta merkte, wie gut es ihr tat, über etwas so Sachliches wie den Bau des »Miramar« zu reden. Sie atmete tief ein, richtete ihren Oberkörper auf, baute ihre Stütze auf, als müsste sie sich schon jetzt auf ihr Konzert vorbereiten. In den Jahreszahlen fühlte sie sich sicher, in den Debatten über den Dünenschutz auch, und über vergangene Sturmfluten redete sie gern, wenn sie über Sylt sprechen wollte und Sehnsucht nach ihrer Insel hatte. Nur über die Menschen, auf die sie in den nächsten Tagen treffenwürde, redete sie nicht. Ludwig blieb immer wieder ohne Antwort, wenn er sie fragte, was ihr diese Rückkehr nach Sylt bedeutete. Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass er mit Aletta, wenn sie Heimweh hatte, über die Sturmfluten von 1909 reden musste, über den Brand der Kaiserhalle im September 1911 und die im Oktober folgende Sturmflut, die die gesamten Strandanlagen ins Meer gerissen hatte.
»Der Besitzer des ›Miramar‹ hat eine Strandmauer bauen lassen«, sagte er, drängte sich dicht an Aletta heran und legte sein Kinn auf ihre Schulter. »Jetzt kann nichts mehr passieren. Keine noch so schwere Sturmflut kann der Strandmauer etwas anhaben.«
Seine Stimme klang zuversichtlich, aber Aletta wusste, dass er sich zum Optimismus zwang. Gegen die Naturgewalten mochte Sylt sich gewappnet haben, aber was war mit der Gewalt von kriegerischen Auseinandersetzungen? Ludwig hatte sie seit der Ermordung von
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