Sturmherz
gezogen und starrte mich an, als wolle er jeden Augenblick aufspringen und fliehen. Vermutlich hätte er genau das getan, wäre er dazu imstande gewesen.
Verdammt, dieses Wesen war echt. Und ich verlor gänzlich den Verstand. Wie sollte ich das meinem Vater erklären? Es war eine Sache, ein sterbendes Tier zu umsorgen. Ein ganz anderes Kaliber war es, wenn ein Mensch in unserem Schuppen starb. Wir würden Ärger bekommen. Ganz gewaltigen Ärger. Womöglich war er ein geflohener Verbrecher. Oder das Opfer eines Gewaltaktes. Und der, der ihm das angetan hatte, war soeben auf dem Weg hierher, um ihn zu erledigen – und mich gleich dazu.
Ja klar, kommentierte die zynische Stimme meiner Vernunft. Er ist nackt und schwer verletzt in den Schuppen gestolpert, hat den Seehund gehäutet, den Kadaver hinausbefördert und sich anschließend selbst auf die Decke gelegt.
Das war keinen Deut besser als die Selkie-Theorie.
„Wer bist du?“, flüsterte ich. „Woher kommst du? Was ist passiert?“
Ich erhielt keine Antwort. Natürlich nicht. Vor mir saß ein Schwerverletzter, der kurz vor einem hämorrhagischen Schock stand. Ihn mit Fragen zu löchern, war das Dümmste, was ich tun konnte.
Der Junge schauderte, als ich behutsam eine Hand an seine Wange legte. Seine Haut fühlte sich kalt an. Fast schon … nein, unmöglich. So leicht starb es sich nicht.
„Warte hier.“ Ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. „Ich hole meinen Vater. Er wird dir helfen.“
„Kein Arzt!“, hörte ich ihn plötzlich flüstern, so leise, dass ich zunächst glaubte, nur einer Einbildung erlegen zu sein.
Doch als ich mein Ohr an seinen Mund hielt, vernahm ich es erneut: „Kein Arzt. Bitte.“
„In Ordnung.“ Die Antwort erfolgte ohne Nachdenken. „Mein Dad kennt sich ein bisschen mit Medizin aus. Er wird dir helfen.“
Kaum hatte ich es ausgesprochen, sackte der Junge zur Seite. Genau in meine Arme. Sein Körper jagte mir Schockwellen frostigen Schreckens über den Rücken, denn er fühlte sich an wie kalter Stein.
„Ich lasse nicht zu, dass du stirbst.“ Unwillkürlich hauchte ich einen Kuss auf seine Stirn. Obwohl ich Angst hatte, blutbesudelt und schwindelig vor Schrecken war, überkam mich plötzlich das seltsame Gefühl, dass mein ganzes Leben auf diesen Moment hinausgelaufen war. Er war mir fast vertraut, wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand aus einem tiefen Schlaf wachgerüttelt. Oder als hätte mir jemand die Antwort auf eine brennende Frage gegeben. Nur dass ich weder die Antwort noch die Frage kannte. Noch nicht.
Ein mattes Zucken, das durch den Körper des Jungen ging, riss mich in die Realität zurück. „Ich bin gleich wieder hier“, sagte ich zu ihm. „Du wirst nicht sterben. Das verspreche ich dir.“
Für Dad schien der Junge leicht wie eine Feder zu sein, als er ihn ins Haus trug und auf das Sofa legte. Ein zweites Mal versorgte er das Schussloch. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stürzten ihn die Geschehnisse dieses Abends nicht weniger in Fassungslosigkeit als mich.
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.“ Nach getaner Arbeit wusch er sich die blutigen Hände, zog sich um und sank neben mir zu Boden. Sein blasses Gesicht und die dunklen Augenringe verrieten, wie erschöpft er war. „Sonst stirbt er uns unter den Händen weg.“
„Das können wir nicht. Er hat gesagt, dass er keinen Arzt will“, erklärte ich mit Nachdruck.
„Und warum? Hat er das auch gesagt? Vielleicht ist ihm die Polizei auf den Fersen.“
„Ganz sicher nicht.“
„Woher willst du das wissen? Verfügen wir neuerdings über telepathische Fähigkeiten?“
„Nein, aber …“ Ich seufzte und schüttelte frustriert den Kopf. „Ach verdammt, Dad. Lies doch einfach meine Gedanken. Das scheinst du doch sonst auch zu können.“
Hilflos starrte ich auf unseren Patienten hinunter. Sein Körper hatte die Schlaksigkeit der Jugend längst hinter sich gelassen und war dem eines sehnigen, durchtrainierten Mannes gewichen. Nirgendwo saß ein Gramm Fett zu viel. Doch die augenscheinliche Kraft dieses Körpers verhinderte nicht, dass der Junge in der Art und Weise, wie er vor uns lag, etwas unendlich Verletzliches ausstrahlte.
„Ich glaube, dass …“
„Ich weiß, was du glaubst.“ Dad beäugte den silbernen, an der Innenseite blutigen Pelz, der ausgebreitet auf dem Tisch lag. „Aber das ist unmöglich. Jetzt mal ernsthaft, Mari, er kann doch nicht … glaubst du wirklich,
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