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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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sentimentale Gutmenschen wie dich sind die doch spezialisiert! Da! Gerade hat einer auf den Schaukelstuhl geschissen.“
    Bis heute war meine Frage, wie die beiden je so lange hatten zusammenbleiben können, unbeantwortet geblieben. Gegensätze zogen sich an. An dieser Weisheit musste etwas Wahres dran sein. Allerdings konnte man diese auf Gegensätzen beruhende Anziehungskraft nur als flüchtig bezeichnen.
    Was Mum wohl sagen würde, könnte sie uns und den Jungen jetzt sehen? Höchstwahrscheinlich hätte sie sich Gummihandschuhe anzogen, um den Pelz mit spitzen Fingern in den Müll zu befördern. Anschließend hätte sie die Polizei gerufen, damit sie den zweifellos gefährlichen nackten Wilden einsacken, der es im Falle ihrer Anwesenheit niemals bis ins Wohnzimmer geschafft hätte.
    Vorsichtig berührte ich das silberne Fell. Jetzt, wo es ein wenig trockener war, fühlte es sich wie Samt und Seide an. Überwacht von Dads Argusaugen, ließ ich meine Hand zu dem schlafenden Jungen hinüberwandern und streichelte sein Haar. Weich fühlte es sich an, wie der Pelz. Die Locken schimmerten im Blau des nächtlichen Meeres und gingen mit der Haut, die an blasses Perlmutt erinnerte, eine wunderbare Symbiose ein. Perfektion war mir immer langweilig erschienen. Abgestumpft und jeder Besonderheit entbehrend. Doch jetzt wurde ich eines Besseren belehrt. So wie ihn mochte man sich Fabelwesen vorstellen. Scheue, wilde Geschöpfe, erschaffen von den Fantasien der Menschen. Eine Verkörperung all ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen. Wer immer das Geschick auf Erden lenkte, ich verfluchte ihn für seine Grausamkeit.
    Konnte denn kein Wunder geschehen, das sein Leben rettete?
    Zäh fließende Zeit schien bis zum Stillstand zu gerinnen. Weil mir nichts Besseres einfiel, ging ich an den Computer, räumte Papierstapel und Kaffeebecher beiseite und rief Google auf. Mein Herz klopfte, als ich zu tippen begann. Hinter mir hörte ich Dad jammern und leise fluchen. Bis jetzt war mir nicht klar gewesen, dass ihm Umschreibungen wie verdammte Hundekacke , Bockmist und hirnverbrannte Scheiße geläufig waren.
    „Weiß du was?“, sagte ich über die Schulter hinweg.
    „Was?“
    „Du hast recht. Das Wichtigste ist, dass er nicht stirbt. Aber ruf unseren Hausarzt an, nicht das Krankenhaus.“
    „Okay.“ Ich hörte, wie er hochfuhr und nach dem Telefon griff. Mir war nicht wohl dabei, aber ohne professionelle Hilfe würde der Junge nicht überleben. Es musste sein. Gut möglich, dass er einfach nur ein Mensch war. Seltsam, aber normal. Ja, das war sogar das Wahrscheinlichste. Wir befanden uns hier in der Realität, nicht in einem Märchen. Und falls es sich bei unserem Patienten tatsächlich um ein außergewöhnliches Wesen handelte, würden wir unseren guten alten Hausarzt hoffentlich davon überzeugen können, den Mund zu halten.
    Während Dad eine knappe, verharmlosende Beschreibung in das Telefon blaffte, widmete ich mich wieder dem Computer.
    Se …
    Der Cursor blinkte spöttisch. Was in aller Welt war los mit mir? Begann ich jetzt endgültig zu spinnen?
    Selk…
    Ich dachte an meine Großmutter. Sie war ein besonderer Mensch gewesen. Eine Fischerfrau, wie sie im Buche stand, verliebt in die See und in die Legenden, die der salzige Wind erzählte. Sie hätte nicht über meine Anwandlungen gespottet, sondern mir auffordernd zugelächelt.
    Werfe einen Blick in fantastische Welten. Glaube mir, die Geschöpfe aus unseren Märchen sind noch immer da draußen. Und je nachdem, ob wir uns ihre Achtung verdienen oder nicht, sind sie unser Segen oder unser Fluch.
    Hinter mir bekam Dad einen Tobsuchtsanfall.
    „Nein“, hörte ich ihn brüllen. „Das können wir nicht. Warum würde ich Sie sonst anrufen? Also beeilen Sie sich gefälligst.“ Er stutzte, als sei er überrascht von seinem eigenen barschen Ton, und setzte reumütig hinzu: „Danke. Tut mir leid. Bis gleich.“
    Ich seufzte und tippte die letzten beiden Buchstaben ein.
    Selkie.
    Na wunderbar. Wenn das nichts über meine geistige Verfassung aussagte. Während Dad sich mit einem Stoßseufzer auf das freie Ende des Sofas setzte und den Jungen aus Eulenaugen taxierte, ging ich in die Küche, setzte Kaffee auf und kochte Kamillentee. Wenn unser Patient wach wurde, musste er unbedingt etwas trinken.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte und die Teekanne auf den Tisch stellte, sah ich, dass er tief und fest schlief. Sein Atem ging ruhig, der Puls am Hals schlug gleichmäßig und schien

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