Sturmherz
Prolog
Orkney Inseln, Schottland
~ Louan ~
V on meinem Versteck hinter einem Felsen aus beobachtete ich das Mädchen. Jeden Abend suchte sie nach mir, doch ich konnte ihr Sehnen nicht erfüllen. Ich war ein Schatten meiner selbst seit der letzten Nacht des vergangenen Vollmonds, in der meine Erinnerung zurückgekehrt war.
Louan, ich brauche dich.
Ich habe dir ein Versprechen gegeben, aber ich kann es nicht halten. Ich brauche dich so sehr. Hörst du mich?
Die Worte waren durch meine Träume geschwebt und selbst im Sonnenlicht nicht verschwunden. Sie hallten in mir nach, wieder und wieder, durchdrangen die Mauer meines Vergessens und brachten alles zurück. Die Tage und Nächte unseres gemeinsamen Glücks, die Zeit des Gefangenseins. Mein Tod und die Wiedergeburt. Unser letzter Kuss.
Mari …
Ihr Name schwebte als fernes Licht in der Dunkelheit, die das Tier um mein altes Ich gehüllt hatte. Der Fluch eines Selkies, Gefühle spüren zu können, schmerzte in dieser Nacht besonders heftig. Ihre Trauer war so groß, so heftig und verzweifelt, dass meine Seele unter ihrem Ansturm bersten wollte. Aber ich konnte nicht zurückkehren. So gern ich sie auch trösten und in meinen Armen halten wollte.
Kalte Flocken fielen auf mein Gesicht und rieselten ins Wasser hinab. Die Zeit verging so schnell, schon wieder war es Winter geworden. Ich blickte zum Himmel hinauf und sah, wie der Schnee im Dunkel der Nacht tanzte. Vergänglich wie das Leben eines Menschen. Er fiel genauso wie vor einem Jahr, als ich sterbend in den Armen des Mädchens gelegen hatte, das Flüstern der anderen Welt bereits in den Ohren. Nur für Mari war ich zurückgekehrt, und nur für Mari hatte ich noch einmal als Mensch gelebt. Seit einem Jahr war dieser Mensch unwiderruflich verloren. Die Erinnerung mochte zurückgekehrt sein, nicht aber die Gabe der Verwandlung. Manchmal fühlte es sich an, als kehre das Gefühl für Arme und Beine, die sich von innen gegen das Gefängnis aus tierischem Fleisch drückten und nach Befreiung strebten, zurück.
Es war nichts weiter als eine höhnische Illusion. Kaum griff ich nach diesem Gefühl, um mich zu befreien, entglitt es mir und ließ nichts als Leere zurück.
Meine Finger würden nie wieder durch ihr Haar streichen und mein Körper nie wieder ihre Wärme spüren. Es war dumm, Nacht für Nacht hierherzukommen. Es war genauso dumm, wie mir den Stachel eines Seeigels wieder und wieder ins Fleisch zu rammen.
Aber beim Salz der See, sie war so schön. So stark und stolz. Reglos stand sie da, den Wind im Haar und die nackten Füße in die Brandung getaucht, als spürte sie die Kälte nicht. Ihr Sehnen war Feuer in meinem Herzen und Eis in meiner Seele. Doch wie konnte ich sie in meine Welt holen, wenn der Mensch, den sie liebte, für immer verloren war?
Ich erinnerte mich daran, wie es war, sie im Arm zu halten. Wie es war, ihre Stimme zu hören und ihr mit menschlicher Zunge die meine ins Ohr zu flüstern. Wie es war, sie zu küssen und ihren Atem in mich aufzunehmen.
Weint eine Frau sieben Tränen in das Meer, so besagen die alten Geschichten, entsteigt den Wellen der Selkie in menschlicher Gestalt und gehört eine Nacht lang ihr. Ich hatte ihr gehört, doch alle Tränen brachten den Mensch in mir nicht zurück.
War wirklich nur ein Jahr vergangen? Oder nicht doch eine Ewigkeit?
Kapitel 1
Wie das Schicksal zu mir kam
„Nicht über den Wellen des Ozeans,
nicht über den Sternen
und nicht im Lande der Phantasien
ist meine Heimat.
Ich finde sie nur in deinen Augen.“
Autor unbekannt
Ein Jahr zuvor
~ Mari ~
H offnungslos. Resigniert.
Ich ertrug den Blick dieser Augen kaum. Sie sehnten sich nach Freiheit. Nach der spröden Gischt des Meeres, das keine hundert Meter entfernt gegen die Klippen von Westray brandete. Nach dem Spiel in den Wellen und den nächtlichen Sandbänken, auf denen seine Artgenossen schliefen.
Beinahe bereute ich es, zu so später Stunde noch hinunter an den Strand gegangen zu sein, nur um letztlich über dieses bedauernswerte Wesen zu stolpern. Doch durch meine Traurigkeit sickerte das Gefühl der Gewissheit, dass es Schicksal gewesen war.
Ich hatte schon oft Seehunde gesehen. Aber niemals einen wie ihn. Er war groß, schlank und geschmeidig wie fließendes Quecksilber. Sein fleckenloses Fell besaß einen Glanz, der ihm das Aussehen eines Traumgeschöpfes gab. Eines Wesens, das die Grenze zur realen Welt nur zufällig übertreten hatte.
Jetzt lag es vor mir in Dads zugemülltem
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