Süden und der Luftgitarrist
Loos noch einmal stehen.
»Jetzt musst du dein Konzert, oder wie man das nennt, absagen«, sagte sie.
Edward vergrub seine Hände noch tiefer in den Taschen seines Wollmantels. »Ich werd auf die Bühne gehen«, sagte er. »Ich spiel für Aladin.«
»Das verbiete ich dir!«, sagte Mildred Loos und sah mich sofort an, etwas erschrocken. Edward ging weiter.
»Sie sollten auch hingehen«, sagte ich. »Bleiben Sie nicht allein zu Hause.«
»Ich muss ins Theater«, sagte sie, wollte einen Schritt machen, hielt inne. »Das ist ja Unsinn, ich geh nirgends hin, selbstverständlich bleib ich zu Hause.«
Ich sagte: »Es ist Ihnen alles fremd jetzt.«
Sie hielt nach Edward Ausschau, der auf dem Gehsteig nicht mehr zu sehen war.
»Woher wissen Sie das?«, sagte sie, eine Hand auf den Schal gepresst. »Sie sind ja ein Fachmann! Das hab ich grad vergessen, Sie kennen solche Situationen. Einer verschwindet, Sie suchen ihn, dann finden Sie seine Leiche, und das Kapitel ist beendet. Im ersten Moment hab ich gedacht, er ist es nicht, ich hab ihn nicht erkannt, er war so dürr und… so grau und… die Flecken überall, und er sah überhaupt nicht aus wie… wie…«
»Wie einunddreißig«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie und blickte zu Boden und dann zur Straße, wo Edward jetzt auftauchte und stehen blieb. »So gealtert… so… fremd… Ich kann gar nicht weinen, ist das schlimm? Verurteilen Sie mich jetzt?«
»Ich verurteile Sie doch nicht«, sagte ich. Mit einem Blick auf das Institutsgebäude sagte sie: »So ein dämlicher Hut. Wie aus dem Fasching. Er ist im Auto gelegen mit diesem Hut auf dem Kopf?«
»Ja«, sagte ich.
»Das ist schon albern.«
»Und erst die Sonnenbrille«, sagte ich.
»Als wär er im Traum auf Hawaii gewesen!«
»Das kann man nicht wissen«, sagte ich. Ich wollte sie fragen, ob sie Genoveva Viellieber kannte, doch sie ging auf ihren Sohn zu, küsste ihn auf die Wange und umarmte ihn. Er ließ die Hände in den Manteltaschen und weinte.
Die Besucher bildeten eine Schlange bis auf die Straße, junge Leute, hauptsächlich Mädchen und Frauen zwischen siebzehn und fünfundzwanzig. Geduldig und aufgekratzt und überbordend vor Gesprächsstoff schoben sie sich Schritt für Schritt in die Höhle des »Substanz«, wo man die Luft inzwischen mit einer Kettensäge hätte zerschneiden können. Nach fünf Minuten an den Tresen gequetscht, gestoßen, getreten und besabbert, beschallt von Heavy Metal, das mich mein Alter nicht nur in den Ohren grausam spüren ließ, schlug ich, Sonja Feyerabend als wandelnde Fassungslosigkeit mit Ledermütze im Schlepptau, mit erhobenen Armen eine Schneise durch die hereinquellenden Massen, noch mehr gestoßen, noch mehr getreten, noch mehr besabbert, noch schneller alternd.
Draußen, auf der anderen Straßenseite, labten wir uns gierig am Sauerstoffbüffet.
»Ohne mich«, sagte Sonja, halbwegs regeneriert.
Ich sagte: »An den anderen Abenden haben wir auch überlebt.«
»Heute sind doppelt so viele Leute da!«
Ein Taxi hielt und ein Mann in einer Jacke aus Schlangenleder und hautengen Bluejeans, deren Beine eine Handbreit hochgekrempelt waren, stieg aus. Sofort schrien ein paar Mädchen seinen Namen.
»Jeepster! Jeepster!«
Applaus schallte ihm hinterher, als er auf uns zukam. Martin trug dieselben Sachen wie bei seinen bisherigen Auftritten, dazu an den Fingerkuppen abgeschnittene dünne Lederhandschuhe. Seine weißen Sportschuhe stachen aus der Dunkelheit. Außerdem hatte er sich Gel in seine Resthaare geschmiert. Er roch nach Bier und Zigaretten.
»Die Jungs von der Band schon da?«, sagte er und grinste vor sich hin.
»Sie warten auf dich«, sagte ich.
Er warf mir einen Blick zu, aber er täuschte sich, ich lachte nicht über ihn.
»Ich hab mich erkundigt«, sagte er.
»Worüber?«, sagte ich.
»Ich weiß jetzt, was ein Zimmer im ›Königshof‹ kostet. Ihr spinnt doch!«
Dann schaute er über die Straße zu seinen Fans. Viele standen noch immer vor der Tür des Lokals, rauchten und traten von einem Bein aufs andere. Im Lauf des späten Nachmittags waren die Temperaturen wieder gesunken.
»Ich muss rein«, sagte Martin. »Habt ihr den Vagabond schon gesehen?«
»Nein«, sagte ich. »Viel Glück.«
»Viel Glück!«, sagte Sonja.
Einen Moment hielt er inne, blickte noch einmal von einem zum anderen, mit einem Ausdruck trauriger Erwartung.
Ich schwieg. Sonja zupfte an ihrer Ledermütze.
»Du schaffst es, yeah!«, rief ein junger Typ von der anderen
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