Amber Rain
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Amber
Heute heiße ich mal Penny. Ich stelle mir vor, dass ich vier Ja h re alt bin und meine Mama mir versprochen hat, gleich wieder zu Hause zu sein. Die Seiten des Telefonbuchs sind dünn und liegen abgegriffen zwischen meinen Fingern. Wahllos schlage ich es an einer beliebigen Stelle auf und suche nach dem richt i gen Namen. Als erstes fallen mir nur Männer ins Auge.
James Berkeley.
Sofort habe ich ein Bild vor Augen. Bestimmt ist James ein Typ Mitte Vierzig. Ergrauende Schläfen, Nickelbrille. Jeden Tag schleppt er sich ins Büro, um dort Versicherungen zu ve r kaufen, damit Kinder und Frau gut versorgt sind. James führt ein langweiliges Leben und er ist nicht das, was ich heute bra u che. Mit dem Finger fahre ich die Zeilen entlang. Es gibt viele Berkeleys, aber keiner, der für mein Spiel der richtige zu sein scheint. Am meisten ärgern mich die Einträge ohne Vornamen. Wie soll ich mir einen K. Beaver vorstellen? Ist er überhaupt ein Er? Ich blättere weiter und weiter. Plötzlich bleibt mein Blick an einem Namen hängen.
Harriett Batterfield.
Das ist gut. In der Schauspielschule habe ich gelernt, dass es das A und O eines jeden darstellenden Künstlers ist, in den Charakter zu gehen. Auf der Bühne mag das so sein. Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal auf einer Bühne g e standen habe. Hier, in meinem Wohnzimmer, mit nichts als meinen Freunden von IKEA als Publikum, ist es für mich ebenso wichtig, mir meinen Co-Star vorzustellen. Harriett ist ein altes Mütterchen. Ich sehe sie vor mir, zwischen Mahag o nimöbeln und Meissner Porzellan. Ihre Couch ist nicht von IKEA, sondern ein Erbstück, und ihre Familie sind ihre Pu p pen, erstarrt in der ewigen Kindheit ihrer Porzellangesichter. Ja, Harriett hat ganz sicher Mitleid mit der kleinen Penny.
Ich gehe zu dem runden Tisch, auf dem mein Telefon liegt. In mir flüstert eine leise Stimme, dass es nicht gut ist, was ich hier tue. Wenn mich jemand so sehen würde, mit dem Telefon in der Hand und dem Plan, eine Fremde anzurufen und vorz u geben, eine Vierjährige zu sein, hielte er mich bestimmt für geisteskrank. Wenn Kinder das machen, was ich tue, dann nennt sich das harmlos Klingelstreich, oder Schellenklopfen, wenn es nicht mit einem Telefon geschieht, sondern in echt. Wenn eine erwachsene Frau wie ich sich ein so originelles Hobby gönnt, dann ist das schon nicht mehr so lustig. Ich sehe mich nicht als verrückt, zumindest nicht im klinischen Sinne. Ein bisschen durchgeknallt vielleicht, aber hauptsächlich kre a tiv. Für mich ist es eine Übung, mehr nicht. Morgen ist das Casting. Nur ein kleines Casting eines Amateur-Theaters. Ich habe die Anzeige auf Facebook gesehen. Eine Freundin von Charly engagiert sich für die International Actors Guild. Ein großer Name für eine Gruppe zusammengewürfelter Laienda r steller aus allen Herren Länder, die in Kirchen auftreten und manchmal in Schulen. Demnächst inszenieren sie ein Improv i sationstheater an bekannten Denkmälern der Stadt. Desdem o nas Tod vor dem Buckingham Palace, Oberons Streit mit Tit a nia im Hyde Park und so weiter. Charly hat die Anzeige der IAG geteilt. Es werden noch Darsteller gesucht. Das offene Casting findet morgen statt, im Hinterzimmer eines Cafés im Westend. Wahrscheinlich wird kaum jemand hingehen. Die meisten Laiendarsteller möchten ein Drehbuch haben, Zeilen, die sie auswendig lernen können und dann herunterbeten. Mir gefällt die Idee der Improvisation. Die Stücke, die auf dem Programm stehen und variiert werden sollen, kenne ich in und auswendig. Man wird nicht groß auf Englands kleineren und größeren Bühnen, ohne jede Zeile von Shakespeare zu kennen, und mich reizt der Gedanke, ihnen meine eigene Stimme zu verleihen. Wenn ich morgen mein Bestes geben will, dann brauche ich Übung. Nur noch dieses eine Mal. Morgen, wenn das Casting vorbei ist, wenn ich es geschafft habe, die U-Bahn-Fahrt hinter mich zu bringen und auf einem großen leeren Platz zu stehen, ohne Möglichkeit zu entkommen, dann bra u che ich nicht mehr das Telefon, um spielen zu können. Dann habe ich es geschafft.
Ich nehme den Telefonhörer in die Hand und überprüfe, dass die Rufnummernunterdrückung aktiviert ist. Harrietts Nummer habe ich im Kopf. Es ist mir noch nie schwer gefa l len, mir etwas zu merken. Ganz egal, ob Text oder Zahlen. Vielleicht bin ich deshalb schon im Kindergarten für die The a tergruppe entdeckt worden. Während die anderen in meiner Klasse
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