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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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leer, verstaute sie in der Tasche und öffnete eine neue.
    Die ganze Zeit sagten wir kein Wort. Wir kamen am Ostbahnhof vorüber, mussten am Orleansplatz wegen Bauarbeiten warten, bogen nach Berg am Laim ab und wendeten an der St.-Veit-Straße, um die kilometerlange Strecke in entgegengesetzter Richtung zurückzufahren.
    An einer Straßenecke in Haidhausen sagte Holzapfel plötzlich: »Da, in dem Haus da, da drüben, da war früher ein Kino. Da war ich.« Er wischte mit dem Ärmel über die Scheibe. »Die meisten Kinos sind weg heut, weg sind die, weg.«
    »Welchen Film haben Sie in dem Kino gesehen?«, fragte ich.
    Er antwortete nicht.
    »Der erste Film, den ich als Kind gesehen habe«, sagte ich, »hieß ›Sinuhe, der Ägypter‹.«
    »Den kenn ich!«, sagte Holzapfel und fuhr herum. »Hab ich auch gesehen, ich auch, als Jugendlicher aber, als Jugendlicher.« Nickend trank er, und das Bier tropfte ihm aus dem Mund.
    »Wie alt sind Sie?«, fragte er und sah an mir vorbei.
    »Vierundvierzig.«
    »Ich einundfünfzig«, sagte er so laut, dass die Frau vor uns sich umdrehte.
    »Grüß Gott«, sagte ich zu ihr.
    »Grüß Gott«, sagte Holzapfel ebenfalls, ohne sie anzuschauen.
    Die Frau wandte sich wieder nach vorn.
    Holzapfel neigte den Kopf zu mir. »Sie?«, flüsterte er.
    »Ja«, flüsterte ich.
    »Haben Sie geweint im Kino damals? Damals im Kino?« Sein Mund war nah an meinem Ohr. Als ich den Kopf drehte, roch ich seinen Bieratem und ich wünschte, er würde mir auch eine Dose anbieten.
    »Nein«, sagte ich. »Ich war glücklich, dass mein Vater neben mir saß.«
    »Das versteh ich«, sagte Holzapfel und sah wieder aus dem Fenster. »Das versteh ich doch.«
    Nach einer Weile fuhr er wie zuvor herum: »Früher«, sagte er. »Früher, nachts, in der Nacht, wenn ich Angst hatte, als Kind, kleiner Junge, wenn es schlimm war, Mutter laut, Vater laut, schlimm schlimm, da hab ich mir vorgestellt, ich bin Schauspieler. Bettschauspieler. Bin Schauspieler und muss das jetzt spielen, das alles, schlimme Rolle spielen, ist eine Rolle, ist nur die Rolle, die man spielen muss. Mutter gemein, Vater unberechenbar, alles Rollen, Charakterstudien, ein Drama, ich der Sohn. Hans Ichtersohn, so war mein Rollenname, ganz klar, so kam ich durch, durch die Nacht und durch die nächste Nacht. Und im nächsten Film wirds besser dann, wirds besser, sicher. Es ist nicht von Vorteil, immer dieselben Rollen zu spielen. Das hat geholfen. Das hilft.«
    Mit einem Ruck wandte er sich ab.
    »Es hat sich nichts geändert«, sagte ich.
    Er trank. Er stöhnte.
    Wie in einem rückwärts, in derselben Geschwindigkeit laufenden Film passierten wir erneut den Hauptbahnhof, kamen am Dezernat 11 vorüber und folgten der Bayerstraße, bis wir irgendwann in Pasing sein würden. Wie Statisten saßen wir da, oder Touristendarsteller, und es gab niemand, der uns Anweisungen gab oder uns entließ. Ich sagte: »Wollten Sie nie etwas anderes machen? Mit der Schauspielerei aufhören?«
    »Hab ich doch!«, rief er. »Hab ich! Hab ich!« Er bemerkte, dass die Frau vor uns, eine andere als vorher, dabei war sich zu uns umzuschauen, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Aber ändern klappt nicht. Man kommt nicht raus, man bleibt immer gleich. Ganz gleich.«
    »Kennen Sie die Geschichte von den Affen auf den japanischen Inseln?«, fragte ich.
    Er fing an zu kichern. Zwischendurch trank er, dann kicherte er weiter. Sein Oberkörper schüttelte sich, er wippte mit den Knien, die Tasche auf seinen Beinen hüpfte, es sah aus, als würde er sich gleich in ein Kind verwandeln, das vor Freude in die Hände klatscht.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Affen«, gluckste er, »Affen kenn ich, kenn ich genau, kenn ich! War doch selber einer. Haben Sie mich nicht gesehen? Was versäumt!«
    Er hob die Dose an die Lippen und setzte nicht ab, bis er sie leer getrunken hatte. Er ließ sie in die Tasche fallen, griff hinein und holte eine weitere Dose heraus.
    »Krieg ich auch eine?«, fragte ich.
    »Selbstverständlich, mein Herr!«, sagte er und hielt mir die Dose hin. Dann nahm er sich eine neue, und wir tranken gleichzeitig.
    »Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte«, sagte er. »Ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch. Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerungen immer mehr.« Er spielte mit der Dose in seinen Händen, drehte sie, hob sie hoch, klopfte damit ans Fenster. »Mit Freiheit«, sagte er und schob den Unterkiefer

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