Süden und der Straßenbahntrinker
Brief, handgeschrieben, die Anrede lautete: »Mein liebster Jeremias, mein einziger Freund!«
»Ich habe den Moment abgepasst, wenn du nicht da bist. Ich bitte dich um Verzeihung, und du musst wissen, dass du nicht Schuld bist an dem, was ich tue und was ich auch tun muss, weil ich mir sonst nicht mehr in die Augen schauen kann und dir erst recht nicht. Ich habe festgestellt, ich will nicht mehr leben. Ich bin eine alte Frau. Mit dem, was ich mache, um Geld zu verdienen, bin ich mit achtundfünfzig eine alte Frau, und ich sehe auch so aus. Du warst gut zu mir und bei dir habe ich manchmal sogar vergessen, wie alt ich bin. Das war das Glück in meinem Leben, dieses Glück kann aber nicht andauern, weil ich das nicht will, es wird dann ein abgestandenes Glück, und das ist fürchterlich. Lieber Jeremias, als ich dich kennen gelernt habe, warst du ein komischer Schauspieler, und je länger ich dich kannte, desto mehr bist du ein Mensch geworden, der normal ist. Ich habe das beobachtet, und das hat mir gefallen. Bei diesen Fotosachen, die ich gemacht habe, habe ich zu viel Schlechtes und Widerliches erlebt, das möchte ich nicht mehr. Aber was anderes als das, was ich gemacht habe all die Jahre, kann ich nicht. Ich bin eine ungelernte Frau, alles, was ich konnte, war mich fotografieren lassen und mich ausziehen. Ist das nicht erbärmlich? Warum bist du so lange bei mir geblieben? Immer wieder wollte ich dich wegschicken, aber du bist immer wiedergekommen wie eine Katze. Jetzt geht alles nicht mehr. Ich ekele mich so, dass ich mich nicht einmal betrinken kann, und die Tabletten helfen auch nicht mehr. Nichts hilft mir mehr, nicht einmal du. Du musst mir verzeihen, wenn du kannst. In der Schatulle sind 3000 Euro, die nimm für die Beerdigung und für alles, was du brauchst. In der grünen Schublade unter meinem Schreibtisch liegt noch alte Währung. Alles, was in der Wohnung ist, gehört dir, aber du musst nichts davon aufbewahren, das ist alles überhaupt nichts wert, an allem klebt mein schlechtes Leben. Und jetzt, mein Liebster, küsse ich dich. Und eine Bitte habe ich: Vergrab dich nicht wieder so wie früher, geh ins Leben wie man an die frische Luft geht, geh raus, spiel auf der Bühne und sonst nirgends! Du bist ein freier Mensch, was ich nie gewesen bin. Deine Inge PS: Kannst du dafür sorgen, dass ich im Grab meine Perücke aufhaben darf? Danke.«
Er litt, sagte Professor Werner Rosacher, an einer vorübergehenden psychogenen Amnesie, ausgelöst durch den Schock beim Anblick seiner toten Lebensgefährtin. Da er bereits von Jugend an die Tendenz gehabt hatte, Ereignisse und Wirklichkeit zu verdrängen, was schließlich dazu geführt hatte, dass er sich ein Weiterleben nur noch als Schauspieler auf einer imaginierten Bühne vorstellen konnte, bedeutete der Tod von Inge Hrubesch für ihn eine existentielle Katastrophe. Zumal, wie der Professor erklärte, Holzapfel seit ungefähr zwei Jahren in der Lage gewesen war, seine alte Maske abzulegen und dank der Unterstützung von Inge Hrubesch ein ungekünsteltes selbstbewusstes Leben zu führen. Dass seine Ehefrau ihn vor vier Jahren und sechs Monaten als vermisst gemeldet habe, war reine Einbildung gewesen, auch wenn er damals tatsächlich nach Salzburg gefahren war, offenbar in der irrigen Vorstellung, ein Engagement bei den Festspielen zu haben.
»Und wie wird er in Zukunft leben?«, fragte ich.
»Wir werden ihn beobachten«, sagte der Professor.
Nach einer kurzen Vernehmung Holzapfels durch meine Kollegen Stern, Braga und Gerke kopierte ich den Abschiedsbrief für die Akten.
»Der gehört Ihnen«, sagte ich.
Holzapfel legte das auf beiden Seiten beschriebene Blatt auf den Tisch und griff in seine Hosentasche.
»Und der gehört Ihnen«, sagte er.
Ich nahm den kleinen Zettel. Mein Name stand darauf. Es war der Zettel, den ich durch die Tür im Hochhaus geschoben hatte.
Als ich das Büro verließ, um einige Minuten allein in dem kleinen Vernehmungsraum im dritten Stock zu verbringen, rief Rolf Stern mich ans Telefon.
»Für dich«, sagte er und hielt mir den Hörer hin.
»Tabor Süden.«
»Hier ist Clarissa Holzapfel, ich möchte mich für die Ohrfeige entschuldigen, die ich Ihnen gegeben habe.«
Ich sagte: »Das ist nicht nötig.«
Das Gedicht von den »laubigen Laubfröschen« im 4. Kapitel schrieb Jan Skácel.
Der Affentext, den Holzapfel im 15. Kapitel zitiert, stammt aus der Erzählung »Bericht für eine Akademie« von Franz Kafka.
Friedrich
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