Süden und der Straßenbahntrinker
Im Gegensatz zu Stern und mir wirkte sie ausgeruht.
»Morgen!«, sagte ich.
Sie sagte: »Morgen! Es geht mich nichts an, aber was ist los mit Ihnen? Sie melden sich nicht mehr, erzählen mir nichts, ich hab Sie gebeten, mit dem verwirrten Mann zu sprechen, ich finde, Sie könnten mich schon auf dem Laufenden halten.«
»Ja«, sagte ich. »Ich war viel unterwegs in den letzten Tagen.«
Sie ging die Treppe hinauf.
Vom Bahnhof gegenüber rief ich in der Leitstelle der Verkehrsbetriebe an. Kurz darauf stieg ich am Stachus in eine Bahn der Tramlinie 27.
»Hallo«, sagte ich.
»Was willst du?«, fragte Ute und drückte einen Knopf, um die Türen zu schließen.
Bis zum verdammten Petuelring im Norden der Stadt und wieder zurück zur Endhaltestelle im Osten musste ich mit der Straßenbahn zockeln, bis ich gnädigerweise mit Ute sprechen konnte. Wir hatten uns in der Siebenundzwanziger kennengelernt und diese Linie fuhr auf meiner Hausstrecke. An diesem Morgen hatte ich nicht die geringste Geduld. Außerdem spürte ich, dass an diesem Morgen eine Entscheidung fallen würde, was ich, wenn ich ehrlich war, nicht verhindern wollte.
»Er war also in der Achtzehner unterwegs«, sagte ich.
»Und dann?«
»Dann ist er ausgestiegen«, sagte Ute und aß eine Banane.
Wir standen auf dem Platz zwischen den Gleisen. Ute hatte zehn Minuten Aufenthalt.
»Kann sein, am Isartor«, sagte sie. »Kann auch sein, auf der Museumsbrücke. Ich weiß es nicht. Am Max-Weber-Platz war er jedenfalls nicht mehr da.«
»Und er hatte den Friesennerz an.«
Sie warf die Schale in einen Mülleimer, wischte sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab und ließ es in den Blechkasten fallen.
»Ja«, sagte sie. »Aber ich hab sein Gesicht erkannt, ich kenn ihn von früher, ich hab ihn oft in der Bahn gesehen, er war ein Dauerfahrer. Wahrscheinlich hatte er eine Jahreskarte. Es gibt solche Leute. Manchmal hat er heimlich was getrunken, aber ich habs übersehen. Ich hab nichts gesagt, das ist ja nicht verboten.«
»Was hat er getrunken?«, fragte ich.
»Bier, glaub ich.«
Sie streifte mich mit einem Blick.
Ein paar Leute stiegen in die Straßenbahn und sahen ungeduldig aus dem Fenster.
»Ich mag nicht mehr, Tabor«, sagte Ute. »Ich mag mich nicht mehr so behandeln lassen. Es ist aus mit uns. Ich kann nicht mehr.« Sie schaute mich an, und ich wollte sagen: Es tut mir Leid, es tut mir Leid, dass ich so oft abwesend bin. Ich wollte sagen: Ich möchte bei dir bleiben. Ich sagte nichts.
»Hast du eine neue Freundin?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich.
»Scheiße«, sagte sie, drehte sich um, ging zur Straßenbahn, stieg ein, die Türen schlossen sich, und die Bahn fuhr ab. Wir hatten uns nicht mehr angesehen.
Ich stand auf dem Platz. Wie einfach alles. Wie schnell. Wie praktisch. Ich war nicht erleichtert. Ich war nicht besonders traurig, vielleicht war ich nur so viel traurig, wie es sein musste. Vielleicht war mir alles egal, und ich merkte es nicht. Vierundvierzig Jahre alt. Ute war drei Jahre älter. Wir waren zwei Jahre zusammen gewesen. Brutto. Netto war es etwa ein Jahr. Und dazwischen? Dazwischen waren wir allein, als gebe es uns füreinander nicht. Ich wollte es so. Sie wollte es nicht so. Ich wollte es ändern und schaffte es nicht. Und sie sagte, sie habe Verständnis. Und das hatte sie auch. Ich hatte kein Verständnis für ihren Wunsch, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Und ich hatte zweimal mit anderen Frauen geschlafen. Zuletzt mit Esther. Mit Esther schon zweimal innerhalb von zwei Tagen. Ohne einen Gedanken an Ute. Ohne einen Zusammenhang mit ihr. Aber Esther war keine neue Freundin, so wenig wie Sonja eine werden würde.
Bevor ich anfing Stolz abzusondern, machte ich mich auf den Weg.
Ich wollte Jeremias Holzapfel finden und war mir sicher, wenn er gestern mit der Straßenbahn gefahren war, dann würde er es heute wieder tun. Und dann würde jemand ihn sehen und mich benachrichtigen.
Mit Letzterem hatte ich recht. In einer Straßenbahn allerdings war der Mann nicht gesehen worden.
Nachdem ich vergebens bei Esther angerufen hatte, um zu fragen, ob Holzapfel sich bei ihr gemeldet habe, hörte ich von unterwegs meinen Anrufbeantworter ab. Vielleicht hatte Stern oder jemand anders aus dem Dezernat eine wichtige Nachricht hinterlassen.
Stattdessen hörte ich die aufgeregte Stimme von Silvia Bast: »Bitte kommen Sie, ein Mann, der sagt, er heißt Holzapfel, ist in meiner Wohnung, er hat mich ins Bad gesperrt, ich weiß
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