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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Wohnzimmer der Shimamotos und hörten Ouvertüren von Rossini, die Pastorale von Beethoven oder Peer Gynt . Dabei tranken wir den schwarzen Tee, den Shimamotos Mutter uns brachte. Die Mutter war ziemlich angetan von meinen Besuchen. Wahrscheinlich war sie froh, dass ihre Tochter nach dem Schulwechsel so rasch Anschluss gefunden hatte. Sicher hatte es auch damit zu tun, dass ich stets adrett und anständig gekleidet war. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich nie so recht mit ihr anfreunden konnte. Nicht dass mir etwas Konkretes an ihr missfallen hätte, sie war immer freundlich zu mir, aber hin und wieder spürte ich eine Gereiztheit in ihrer Stimme, die mich beunruhigte.
    Von den Platten des Vaters gefielen mir die Klavierkonzerte von Liszt am besten, das erste auf der A-, das zweite auf der B-Seite. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen fand ich die Hülle wunderschön, und zum anderen gab es – Shimamoto ausgenommen – in meiner Umgebung keinen einzigen Menschen, der schon einmal ein Klavierkonzert von Liszt gehört hatte. Das war ein aufregender Gedanke für mich. Ich kannte eine Welt, die in meinem Umfeld niemand sonst kannte. Es war, als hätte man mir allein den Zutritt zu einem geheimen Garten gestattet. Ich fühlte mich erhaben, denn Liszts Klavierkonzerte ermöglichten es mir, eine höhere Daseinsstufe zu erklimmen.
    Zudem war die Musik selbst von großer Schönheit. Anfangs klang sie für meine Ohren übertrieben, geziert und eher unzusammenhängend, doch durch mehrmaliges Hören verankerte sie sich nach und nach in meinem Bewusstsein, und es war, als würde ein verschwommenes Bild allmählich feste Gestalt annehmen. Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, erreichte mich die Musik als eine Abfolge verschiedener Wirbel. Aus einem Wirbel entstand ein weiterer, der sich mit dem ersten verband, und so fort. Diese Wirbel waren, wie mir natürlich erst heute klar ist, von ideeller, abstrakter Natur. Liebend gern hätte ich Shimamoto von ihnen erzählt. Aber sie gehörten nicht zu den Dingen, die man einem anderen Menschen in alltäglichen Worten erklären konnte. Um sie genau zu beschreiben, hätte es anderer Worte bedurft, die ich jedoch nicht kannte. Außerdem wusste ich gar nicht, ob das, was ich empfand, es überhaupt wert war, weitergegeben zu werden.
    Leider habe ich den Namen des Pianisten vergessen, der die Liszt-Konzerte spielte. Doch an die farbenprächtige Hülle und das Gewicht der Schallplatte, die sich auf geheimnisvolle Weise schwer und massiv anfühlte, erinnere ich mich noch deutlich.
    Zwischen den klassischen Platten, die Shimamotos Vater besaß, standen noch jeweils eine von Nat King Cole und eine von Bing Crosby im Regal, die wir sehr oft hörten. Die von Bing Crosby war eine Weihnachtsplatte, aber wir hörten sie zu jeder Jahreszeit. Noch heute frage ich mich, warum wir so gar nicht genug davon bekamen.
    An einem Tag im Dezember, nicht lange vor Weihnachten, saßen Shimamoto und ich wie üblich auf dem Sofa und hörten Musik. Ihre Mutter machte Besorgungen, und außer uns war niemand im Haus. Es war ein trüber Winternachmittag. Das Licht, das mühsam durch die dichte, tief hängende Wolkenschicht drang, wirkte körnig, aufgeraut durch winzige Staubpartikel. Alles war düster und bewegungslos. Es war dunkel im Zimmer, als wäre es bereits Abend. Ich glaube, die Straßenbeleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Nur der rötliche Schein des Gasofens beleuchtete schwach die Wände. Nat King Cole sang »Pretend«. Natürlich verstanden wir kein Wort von dem englischen Text. Für uns war er so etwas wie eine Zauberformel. Dennoch liebten wir den Song, und da wir ihn immer wieder gehört hatten, konnte ich die ersten Zeilen mitsingen.
    Pretend you’re happy when you’re feeling blue
    It isn’t very hard to do.
    Heute weiß ich natürlich, was sie bedeuten. Sie klingen für mich wie ein Lied über Shimamotos anmutiges Lächeln. Der Text brachte eine bestimmte Lebenseinstellung zum Ausdruck, auch wenn diese Art zu denken mir bisweilen schwer fiel.
    Shimamoto trug einen blauen Pullover mit rundem Ausschnitt. Sie besaß mehrere blaue Pullover. Vielleicht mochte sie blaue Pullover. Oder sie passten einfach gut zu der dunkelblauen Jacke, die sie immer zur Schule trug. Der Kragen ihrer weißen Bluse schaute aus dem Ausschnitt hervor. Außerdem trug sie einen karierten Rock und weiße Baumwollstrümpfe. Unter dem weichen, anliegenden Pullover zeichnete sich die leichte Wölbung ihrer

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