Die falsche Tochter - Roman
PROLOG
12. Dezember 1974
Douglas Edward Cullen musste dringend Pipi machen. Schuld daran waren seine Nervosität, die Aufregung und die Cola, die er bei McDonald’s bekommen hatte, damit er artig war, während Mama einkaufte.
Gequält trat er von einem Fuß auf den anderen. Wie gern wäre er jetzt einfach losgerannt, oder wie gern hätte er laut geschrien! Sein Herz klopfte so heftig, dass er fast das Gefühl hatte zu explodieren.
Er liebte es, wenn im Fernsehen etwas explodierte.
Aber Mama hatte zu ihm gesagt, er müsse artig sein. Wenn kleine Jungen nicht artig waren, steckte der Nikolaus statt Spielzeug Kohle in ihre Strümpfe. Douglas wusste nicht genau, was Kohle war, aber dass er lieber Spielzeug wollte, das wusste er. Also stellte er sich nur vor, dass er schreien und rennen würde – wie immer, wenn es wirklich wichtig war, leise zu sein, und so, wie es ihm sein Daddy beigebracht hatte.
Der große Schneemann neben ihm grinste. Er war sogar noch dicker als Douglas’ Tante Lucy. Douglas wusste nicht, wovon sich Schneemänner ernährten, aber dieser hier aß sicherlich immer eine Menge.
Die leuchtend rote Nase von Rudolf, dem Rentier, blinkte immerzu, bis alles vor Douglas’ Augen verschwamm. Er versuchte, sich dadurch abzulenken, dass er die roten Punkte
zählte, die vor seinen Augen tanzten, so wie Graf Zahl es immer in der Sesamstraße tat.
Eins, zwei, drei! Drei rote Punkte! Hahaha!
Aber es half nichts. Es wurde ihm sogar ein bisschen übel dabei.
Im Einkaufszentrum war es laut, von überall her ertönte Weihnachtsmusik, die Douglas’ Ungeduld noch verstärkte, dazu das Schreien anderer Kinder, weinende Babys …
Seit er eine kleine Schwester hatte, kannte er sich aus mit Babys. Wenn sie weinten, musste man sie auf den Arm nehmen, mit ihnen umhergehen und ihnen dabei etwas vorsingen. Oder man musste sich mit ihnen in den Schaukelstuhl setzen und ihnen so lange vorsichtig auf den Rücken klopfen, bis sie ein Bäuerchen machten.
Wenn Babys ganz laut rülpsten, brauchten sie sich nicht dafür zu entschuldigen. Klar, Babys konnten ja noch gar nicht sprechen.
Im Moment weinte Jessica jedoch nicht. Sie schlief in ihrem Buggy und sah in ihrem roten Kleidchen mit den weißen Rüschen wie eine Babypuppe aus. So nannte Grandma Jessica immer: ihre kleine Babypuppe. Aber manchmal schrie seine Schwester auch und hörte gar nicht mehr auf. Dann wurde ihr Gesicht ganz rot und verschrumpelt, und nichts konnte sie vom Schreien abhalten, weder das Singen noch das Hinundhergehen und auch nicht der Schaukelstuhl.
Douglas fand, dass Jessica in solchen Momenten gar nicht mehr wie eine Babypuppe aussah, sondern eher gemein und böse. Mama war dann immer zu müde, um mit ihm zu spielen. Bevor Jessica in ihren Bauch gekommen war, war sie nie zu müde dazu gewesen.
Aber meistens war es ganz in Ordnung, eine kleine Schwester zu haben. Douglas beobachtete gern, wie sie mit den Beinen strampelte. Und wenn sie manchmal nach seinem Finger griff und ihn richtig fest umklammerte, musste Douglas immer lachen.
Grandma sagte oft, er müsse Jessica beschützen, weil er ihr großer Bruder sei. Er hatte sich schon so viele Gedanken darüber gemacht, dass er sich eines Nachts sogar neben Jessicas Wiege
auf den Fußboden gelegt hatte, für den Fall, dass die Monster, die im Schrank lebten, herauskämen und sie im Schlaf auffressen wollten. Aber am nächsten Morgen war er in seinem eigenen Bett aufgewacht. Vielleicht hatte er ja auch nur geträumt, dass er in Jessicas Zimmer gegangen war, um sie zu beschützen.
In diesem Augenblick bewegte sich die Schlange der wartenden Kinder weiter vor, und Douglas schielte ein wenig unbehaglich zu den Elfen hinüber, die um den Stand herumtanzten. Obwohl sie lächelten, wirkten sie ein wenig böse und gemein – wie Jessica, wenn sie so richtig laut schrie.
Wenn seine Schwester nicht endlich aufwachte, würde sie nicht beim Nikolaus auf dem Schoß sitzen können. Aber irgendwie wäre es ja auch blöd für Jessie, so fein gemacht auf seinem Schoß zu sitzen, wo sie ihm doch nicht einmal sagen könnte, was sie sich zu Weihnachten wünschte. Aber Douglas konnte es. Er war schon dreieinhalb Jahre alt – ein großer Junge, das sagten alle.
Jetzt beugte sich seine Mama zu ihm herunter und fragte ihn leise, ob er Pipi machen müsse. Er schüttelte den Kopf. Mama sah schon wieder so müde aus, und Douglas hatte Angst, dass sie sich wieder hinten anstellen würden und er nicht zum Nikolaus
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