Südlich der Grenze, westlich der Sonne
recht überlegte, auch nicht gerade ein toller Fang.
Wir gingen gemeinsam in die elfte Klasse. Unsere erste Verabredung war ein Doppel-Date, aber beim nächsten Mal trafen wir uns allein. Wenn ich mit ihr zusammen war, fühlte ich mich ungewöhnlich entspannt. In ihrer Gegenwart konnte ich unbefangen reden, und sie hörte mir immer interessiert zu. Ich redete über nichts Besonderes, aber sie lauschte stets aufmerksam und mit einer Miene, als verkünde ich weltbewegende Erkenntnisse. Es war das erste Mal, seit ich mich nicht mehr mit Shimamoto traf, dass ein Mädchen mir so konzentriert zuhörte. Und auch ich wollte alles über sie wissen. Jede Kleinigkeit. Was sie aß. Wie ihr Zimmer aussah. Und welche Aussicht sie von ihrem Fenster aus hatte.
Meine Freundin hieß Izumi – »Quelle«. »Was für ein schöner Name«, sagte ich bei unserem ersten Treffen. »Wenn man eine Axt hineinwirft, kommt eine Fee heraus.« Sie musste lachen. Izumi hatte eine drei Jahre jüngere Schwester und einen fünf Jahre jüngeren Bruder. Ihr Vater war Zahnarzt, sie hatten ein eigenes Haus und einen deutschen Schäferhund. Er hieß – unglaublich, aber wahr – Karl: nach Karl Marx. Izumis Vater war Mitglied der Japanischen Kommunistischen Partei. Sicher gibt es auf der Welt den einen oder anderen Zahnarzt, der Kommunist ist. Doch vermutlich würden sie alle zusammengenommen in vier oder fünf Bussen Platz finden. Dass ausgerechnet der Vater meiner Freundin einer von ihnen war, verwunderte mich ein wenig. Izumis Eltern spielten begeistert Tennis und zogen jeden Sonntag mit ihren Schlägern bewaffnet zum Tennisplatz. Ich fand es etwas merkwürdig, dass ein Kommunist so wild auf Tennis war, aber Izumi schien nichts dabei zu finden. Sie hatte keinerlei Interesse an der Japanischen Kommunistischen Partei, hing aber sehr an ihren Eltern und ging oft zum Tennis mit ihnen. Sie ermunterte mich, ebenfalls damit anzufangen, doch leider konnte ich mich nie für diesen Sport erwärmen.
Izumi beneidete mich um meinen Status als Einzelkind, denn sie konnte ihre Geschwister nicht leiden und hätte liebend gern auf sie verzichtet. Dickfellig seien sie und hoffnungslos verblödet. Am wohlsten fühlte sie sich, wenn sie nicht da waren. Schon immer wäre sie lieber ein Einzelkind gewesen. Dann hätte sie ungestört so leben können, wie es ihr gefiel.
Bei unserer dritten Verabredung küsste ich sie. An diesem Tag waren wir bei mir zu Hause. Meine Mutter war einkaufen gegangen, und Izumi und ich waren allein. Als ich mein Gesicht dem ihren näherte und meine Lippen auf ihre legte, schloss sie die Augen. Sie sagte kein Wort. Ich hatte mir ein Dutzend Ausreden zurechtgelegt, falls sie wütend werden oder sich wegdrehen würde, aber ich brauchte sie nicht. Als unsere Lippen sich trafen, legte ich die Arme um sie und zog sie näher an mich heran. Es war Spätsommer, und sie trug ein Kleid aus Seersucker-Stoff. Es hatte ein Band an der Taille, dessen Enden am Rücken wie Schwänze herunterhingen. Meine Hände berührten den Metallverschluss ihres BH s, und ich spürte ihren Atem an meinem Hals. Mein Herz schlug zum Zerspringen. Mein zum Bersten harter Penis drückte gegen ihren Oberschenkel, und sie rückte ein wenig zur Seite. Aber mehr auch nicht. Sie schien nichts Unnatürliches oder Empörendes daran zu finden.
So saßen wir eng umschlungen auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer. Auf dem Sessel gegenüber kauerte unsere Katze. Sie warf einen Blick in unsere Richtung, räkelte sich stumm und schlief ein. Ich streichelte Izumis Haar und drückte meine Lippen auf ihre kleinen Ohren. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber mir fiel kein einziges Wort ein. Wie sollte ich auch sprechen, wo ich schon kaum atmen konnte? Ich nahm ihre Hand und küsste sie noch einmal. Lange sagte sie nichts, und ich sagte auch nichts.
Nachdem ich Izumi zur Bahn gebracht hatte, war ich sehr aufgewühlt. Ich ging nach Hause, legte mich aufs Sofa und starrte an die Decke. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwann kam meine Mutter und sagte, es würde gleich Abendessen geben. Allerdings hatte ich nicht den geringsten Appetit. Wortlos zog ich mir die Schuhe an, verließ das Haus und irrte zwei Stunden durch die Straßen. Es war ein sonderbares Gefühl. Ich war nicht mehr allein, aber zugleich empfand ich eine nie gekannte, tiefe Einsamkeit. Wie jemand, der zum ersten Mal eine Brille trägt, konnte ich die Distanz zu den Dingen nicht mehr richtig einschätzen.
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