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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Brust ab. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Einen Ellbogen auf die Lehne gestützt, lauschte sie der Musik, den Blick in unbestimmte Ferne gerichtet.
    »Meinst du, es stimmt, dass Ehepaare, die nur ein Kind haben, nicht gut miteinander auskommen?«, fragte sie.
    Ich überlegte, aber der Zusammenhang wurde mir nicht recht klar. »Wo hast du das denn gehört?«
    »Jemand hat vor längerer Zeit mal zu mir gesagt, Eltern, die sich nicht gut verstünden, bekämen nur ein Kind. Das hat mich sehr traurig gemacht.«
    »Hm«, sagte ich.
    »Verstehen deine Mutter und dein Vater sich gut?«
    Darauf hatte ich keine Antwort, denn ich hatte noch nie darüber nachgedacht.
    »Meine Mutter ist nicht sehr kräftig«, sagte ich. »Ich weiß nicht genau, aber vielleicht wäre die Belastung, noch ein Kind zu bekommen, zu groß für sie, und es liegt daran.«
    »Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie es wäre, Geschwister zu haben?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    Ich nahm die Plattenhülle vom Tisch und betrachtete sie. Aber es war zu dunkel im Zimmer, und ich konnte die Schrift nicht lesen. Ich legte die Hülle wieder auf den Tisch und rieb mir mit dem Handgelenk die Augen. Meine Mutter hatte mir irgendwann dieselbe Frage gestellt. Meine Antwort hatte sie weder gefreut noch betrübt. Sie schien nur verwundert. Doch meine Antwort war offen und ehrlich gewesen.
    Und ziemlich weitschweifig. Ich hatte nämlich nicht richtig ausdrücken können, was ich meinte. Was ich hatte sagen wollen, war Folgendes gewesen: »Ich bin ohne Geschwister aufgewachsen und dabei so geworden, wie ich jetzt bin. Wenn ich Geschwister gehabt hätte, wäre ich vermutlich ein ganz anderer geworden. Also hat es für mich, der ich jetzt bin, wie ich bin, keinen Sinn, darüber nachzudenken, wie es wäre, Geschwister zu haben.« Mit anderen Worten, die Frage meiner Mutter schien mir sinnlos.
    Die gleiche Antwort gab ich auch Shimamoto. Sie sah mich lange an. In ihrem Ausdruck war stets etwas, was anderen Menschen zu Herzen ging. Etwas Sinnliches, als würde sie ihrem Gegenüber liebevoll Schicht um Schicht die zarte Haut vom Herzen ziehen – dieser Gedanke kam mir natürlich erst viel später. Ich kann mich auch jetzt noch gut an ihre schmalen Lippen erinnern, die mit der Veränderung in ihrem Ausdruck ganz leicht die Form wechselten, und an das schwache Leuchten, das tief in ihren Augen glomm und mir wie das Flackern einer kleinen Kerze am Ende eines dunklen länglichen Zimmers erschien.
    »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte sie mit ruhiger Erwachsenenstimme.
    »Wirklich?«
    »Ja«, sagte sie. »Es gibt Dinge, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ist man einmal an einem gewissen Punkt angekommen, gibt es kein Zurück mehr. Das meinst du doch, oder?«
    Ich nickte.
    »Mit der Zeit erstarren die Dinge. Wie Zement in einem Eimer. Und dann gibt es kein Zurück mehr. Du willst sagen, dass dein Zement bereits hart geworden ist und du deshalb kein anderer mehr werden kannst, als der, der du bist, oder?«
    »Ja, so ungefähr«, sagte ich unsicher.
    Shimamoto sah kurz auf ihre Hände. »Weißt du, manchmal stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn ich erwachsen bin und verheiratet. In was für einem Haus ich leben und was ich tun werde. Auch wie viele Kinder ich haben werde.«
    »Wirklich?«, sagte ich.
    »Denkst du nie an so was?«
    Ich schüttelte den Kopf. Zwölfjährige Jungen denken über so etwas nicht nach. »Und wie viele Kinder willst du?«
    Sie nahm die Hand von der Sofalehne und legte sie auf ihr Knie. Unverwandt beobachtete ich, wie sie mit dem Finger langsam das Karomuster auf ihrem Rock nachzeichnete. Es lag etwas Geheimnisvolles darin. Von ihrer Fingerspitze schien ein unsichtbarer, feiner Faden auszugehen, aus dem sich eine neue Zeit entspann. Als ich die Augen schloss, tauchten die Wirbel in der Dunkelheit auf. Tauchten auf und verschwanden wieder, lautlos. Aus weiter Ferne hörte ich Nat King Cole »South of the Border« singen. Natürlich handelte das Lied von Mexiko, aber das wusste ich damals nicht. Für mich klangen die Worte »südlich der Grenze« lockend und unergründlich. Sooft ich das Lied hörte, fragte ich mich, was sich wohl südlich der Grenze befinden mochte. Shimamoto fuhr noch immer mit dem Finger über ihren Rock. Ich spürte einen leisen, süßen Schmerz in mir.
    »Es ist seltsam«, sagte sie. »Ich kann mir nur vorstellen, dass ich ein Kind habe. Ich bin

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