Sündiger Mond
dich wiederzusehen, obwohl ich sagen muss, du hättest auf deinen Vater hören und zu einem passenderen Zeitpunkt herkommen sollen.«
Ich blickte gespielt gleichgültig auf die Schauspieler und die Filmcrew. »Ich finde es recht interessant, einmal zu sehen, wie solche Filme gemacht werden.«
»Auf jeden Fall entschuldige ich mich schon einmal«, sagte er.
Die Männer setzten sich erst, als ich Platz genommen hatte. Solche höflichen Gesten gab es nur an einem Ort auf diesem Planeten: in Grotte Cachée. Trotz seiner Jugend war Adrien möglicherweise sogar noch traditionsbewusster als mein Vater.
Ich fragte Dad nach dem Pornofilm, und er sagte mir, er sei der Produzent des Streifens.
»Er basiert darauf.« Adrien nahm ein Buch von einem der Stapel auf seinem Schreibtisch und reichte es mir.
Es war ein schmales Bändchen mit einem braunen Einband, der an den Kanten schon ganz abgestoßen war. Emmelines Emanzipation lautete der Titel. Ich schlug die erste Seite auf. Als Verfasser war »Anonymus« angegeben.
Mein Vater sagte: »Die Autorin, wenn ich die richtige Person im Visier habe, hat 1902 ein paar Tage hier verbracht. Das Buch erschien ein Jahr später bei Saturnalia Press. Es spielt in einem abgelegenen Schloss mit einem römischen Badehaus. Es wird auch eine Höhle erwähnt, allerdings findet keine der Szenen dort statt. Und einige der Figuren, vor allem Tobias, haben verblüffende Ähnlichkeit mit …« Er wechselte einen kurzen Blick mit Adrien. »… mit Leuten, die damals hier gelebt haben.«
»Das ist die Erstausgabe«, erklärte Adrien, als ich den Band durchblätterte. »Sie wurde zum hundertsten Jahrestag der Publikation in New York bei Sotheby’s versteigert. Darius hat sie telefonisch ersteigert – er sammelt antiquarische Bücher.«
Ich nickte, ohne aufzublicken, weil ich nicht mehr Blickkontakt mit ihm herstellen wollte als nötig. Ich fühlte mich sehr zu Adrien Morel hingezogen, eine chemische Reaktion, auf die ich keinen Einfluss hatte – und die Adrien offensichtlich nicht teilte. Als wir uns vor neunzehn Jahren kennengelernt hatten, hatte ich das Gefühl gehabt, meiner anderen Hälfte begegnet zu sein. Wie ich war Adrien Einzelkind und musste mit einem Schicksalsschlag fertig werden, der seine Welt auf den Kopf gestellt hatte.
Im Winter davor waren seine Eltern und ihr administrateur , mein Großvater, ums Leben gekommen, als der Privatjet der Morels in den Schweizer Alpen abgestürzt war. Mit sechzehn Jahren erbte Adrien die seigneury von Grotte Cachée, während mein Vater, der gerade seinen Dienst bei der Royal Air Force als Leutnant quittiert hatte, auf einmal Adriens administrateur war, obwohl er geglaubt hatte, noch jahrelang Zeit zu haben, bevor er den Posten antreten musste. Wir lebten damals in Chelsea in London, wo meine amerikanische Mutter, Madeleine Lamb Archer, eine selbst ernannte »göttinnengleiche Wahrsagerin«, Prominenten wie Prinzessin Diana die Zukunft voraussagte. Als mein Vater ihr mitteilte, dass wir in ein einsames Tal in einer abgelegenen Gegend von Frankreich ziehen würden – und ich am besten aufs Internat ginge –, reichte sie prompt die Scheidung ein. Innerhalb eines Monats waren wir wieder in ihre Heimatstadt New York gezogen, wo sie sich mit ihrem früheren Freund Douglas Tilney einließ; sobald sie geschieden war, heiratete sie ihn.
Als ich in jenen Weihnachtsferien ins Château kam und Adrien kennenlernte, kam er mir trotz seiner Jugend wie eine alte, melancholische Seele vor. Weil seine Eltern es für unpassend hielten, ihn den Vorgängen in Grotte Cachée auszusetzen, war er in einem luxuriösen Jagdhaus im Wald aufgewachsen, und da er von Privatlehrern unterrichtet worden war, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen.
Ich war damals ähnlich einsam wie er, da ich in der elitären Privatschule, auf der meine Mutter mich angemeldet hatte, kaum Anschluss gefunden hatte. Adrien und ich erkannten einander sofort als verwandte Seelen und unternahmen alles gemeinsam, redeten, wanderten, liefen Ski und hörten Musik. Ich zeichnete sein Porträt und schenkte es ihm, was ihn anscheinend sehr berührte, denn er gestand mir, das sei das schönste und persönlichste Geschenk, das ihm je jemand gemacht habe.
Als wir eines Abends vor dem Kamin im Rittersaal saßen, ergriff er meine Hand und hielt sie fest. Ich spürte, dass er mich küssen wollte, sich aber nicht traute, und so küsste ich ihn. Im Schloss gab es
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