Summer Westin: Todesruf (German Edition)
schaumigen weißen Tropfen dreißig Meter unter ihnen auf den Boden aufschlugen. »Nett«, sagte sie. Dann sah sie Sam unter ihren langen Wimpern hervor an. »Kann ich dich Tante Summer nennen? Tante Sam, das klingt so nach Transvestit.«
Sam lachte. 13-Jährige wussten, was Transvestiten sind? »Die Tante kannst du dir schenken. Nenn mich doch einfach Sam. Oder Summer.«
Lili grinste. »Aber nur, wenn wir unter uns sind. Daddy flippt sonst aus.«
»Dann darfst du gern Tante Summer sagen.«
Sie wurde selten mit ihrem richtigen Namen angeredet. Als Teenager hatte sie angefangen, sich Sam zu nennen, um die Jungs in der Highschool davon abzuhalten, mit schmachtender Stimme »Cruel Summer« zu singen oder »Summer breeze, makes me feel fine«. Auch die uralte Schnulze »Hot time, Summer in the City« war ihr nicht erspart geblieben, garniert mit einer Reihe fantasiereicher Ausschmückungen über »heiße Sommernächte«. Lili konnte sich schon jetzt auf eine Reihe Anspielungen zum Thema Riechen, Pflücken und Bestäuben gefasst machen.
»Also, Summer«, versuchte Lili sich mit einem schüchternen Lächeln an dem Namen. »Ich habe da dieses Schulprojekt. Ich soll einen Aufsatz schreiben über zwei unterschiedliche berufliche Laufbahnen.« Sie holte tief Luft und fuhr dann fort: »Und ich dachte mir, nachdem du Biologin und Journalistin bist, könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.« Zögernd und ein wenig verunsichert fuhr sie fort: »Jedenfalls, wenn du mir helfen willst.«
Sam sah sie verblüfft an. Sie wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder eher entsetzt sein sollte. »Darfst du denn dieselbe Person für zwei Berufswege interviewen?«
Lili zuckte mit den Schultern. »Ms Patterson hat nichts Gegenteiliges gesagt.«
»Wäre es nicht interessanter, zwei verschiedene Personen nach ihren Erfahrungen zu fragen?«
Das Gesicht des Mädchens verdüsterte sich. Lili sah auf ihre Zehen hinunter und murmelte: »Du brauchst mir nicht zu helfen. Das ist schon okay. Ich versuche, jemand anderen zu finden.«
Ach verdammt. »Schon gut, Lili, ich helfe dir.«
»Ja!«, rief Lili und reckte die Faust mit der Zahnbürste in den sternenübersäten Himmel.
Es war schön, Anlass zur Freude zu sein – selbst wenn es sich nur um eine 13-Jährige handelte. »Wann musst du den Aufsatz abgeben?«
»Am siebten August.« Lili warf Sam einen raschen Blick zu, als erwarte sie Widerspruch. »Dad hat gesagt, ich müsste endlich mal rechtzeitig anfangen.«
»In zwei Wochen musst du schon abgeben?« Sam blieben nur noch drei Wochen, um ihre Umweltstudie fertigzustellen und ihre Empfehlung für einen Managementplan zu schreiben. Und dann verpflichtete sie sich auch noch, Lili zu helfen? Tief Luft holen, sagte sie sich. Es war ein Unterstufenprojekt – wie schwierig konnte das schon sein? »Wie willst du es angehen?«
»Ich soll mir jeweils ein paar Fragen zu den beiden Berufen ausdenken«, erwiderte Lili. »Das mache ich morgen.« Sie seufzte. »Ich hatte gedacht, ich könnte den Sommerunterricht nicht ausstehen. Aber er ist eigentlich ganz okay.«
Vermutlich wollte sie damit wieder auf ihr vorheriges Thema, ihr soziales Leben, zurückkommen. Sam griff die Andeutung nur zu gern auf. »Irgendwelche coolen Jungs dabei?«
Ein lauter Knall ließ den Feuerturm erzittern. Sam krallte sich am Geländer fest und stieß dabei die Zahnpastatube von der roh gezimmerten Holzplanke.
»Tante Summer?« Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte Sam Lilis weit aufgerissene Augen sehen.
»Alles in Ordnung.« Zumindest hoffte sie das. Sie stürzte nach drinnen, holte das Fernglas und richtete es auf den Marmot Lake.
Wie ein eifriger Cockerspaniel folgte Lili ihr auf dem Fuß. »Was war das?«
»Keine Ahnung.« Sam nahm das Fernglas herunter, um einen Blick auf Lili zu werfen. Dann blitzten Lichter im Wald nahe des Sees auf, und Sam hob das Fernglas wieder an die Augen. Ein Paar Scheinwerfer. Nein, zwei. Zwei Wagen. Die Straße zum See war inzwischen für die Öffentlichkeit gesperrt und mit Stahlbarren und einem Schloss gesichert. Niemand hätte dort drin sein dürfen.
Sollte sie den Verstoß melden? Die Eindringlinge verschwanden gerade; die Chancen, sie zu erwischen, waren gering. Die Explosion war vermutlich eine Feuerwerksrakete gewesen, abgeschossen von Teenagern aus der Gegend. M-80-Raketen konnten wie Kanonen klingen, vor allem in einer ruhigen Nacht wie dieser. Im Quileute- und im Quinault-Reservat wurden noch immer
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