Nuerburghoelle
1.
Böhnke hätte nicht behaupten können, dass die unerwartete Einladung bei ihm große Freude oder gar Begeisterung ausgelöst hätte. Im Gegenteil, er war eher verwundert, ähnlich einem CDU-Mitglied, das eine Einladung zu einer SPD-Versammlung erhält, oder einem Genossen, der bei der Union als Hauptredner im Wahlkampf auftreten sollte. Was sollte ausgerechnet er beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring?
Und sicherlich hätte er die Einladung sofort, wie es üblicherweise heißt, mit dem größten Ausdruck des Bedauerns abgelehnt, wenn er nur ansatzweise geahnt hätte, dass durch seine Zusage die ruhige Zeit in seinem verschlafenen Domizil in Huppenbroich für einige Wochen massiv gestört wurde und er wieder mehr in eine kriminalistische Ermittlertätigkeit hineinrutschte, als ihm lieb war.
Aber so …
Der Nürburgring und die Eifel, sie gehören zusammen wie Adam und Eva, Ebbe und Flut oder Sommer und Sonne, eine scheinbar unauflösliche Zweckbeziehung, die nicht immer harmonisch ablief. Böhnke machte sich deswegen keine Gedanken. Obwohl er nun schon seit fast sechs Jahrzehnten am Nordhang der Eifel lebte, hatte er den Nürburgring noch nie besucht. Wahrscheinlich würde ihm diese Abstinenz als Arroganz oder Ignoranz ausgelegt, aber das kümmerte ihn nicht. Der Nürburgring interessierte ihn nicht, weil er sich generell nicht für Autorennen und damit für Autorennstrecken interessierte. Er sah keinen tieferen Sinn darin, im Höchsttempo über eine Piste zu rasen – wenn er einmal davon absah, welche wirtschaftlichen Interessen mit dieser Raserei verbunden waren.
Autorennen waren nicht sein Ding, und so konnte ihm der Nürburgring gestohlen bleiben. Was sollte er also dort?
Böhnke hatte seine Zweifel, ob es sich bei einem Autorennen überhaupt um Sport handelte. Und damit hatte er einen zweiten Grund, weswegen er die Einladung ablehnen würde. Er hatte sich noch nie sonderlich für Sport interessiert, kam nur zwangsläufig mit ihm in Kontakt, wenn es seine frühere berufliche Tätigkeit als Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte bei der Kriminalpolizei in Aachen mit sich brachte. Während die Fans der Alemannia scharenweise zu einem Fußballspiel auf den ehemaligen Tivoli geströmt waren, hatte er sich in dem maroden Stadion nur einmal blicken lassen, als er einen Mord im Umfeld des Traditionsvereins aufklären musste. Auch das Weltfest des Pferdesports, der CHIO, in der imposanten Reitsportanlage in der Aachener Soers fast unmittelbar neben seinem Arbeitsplatz im Polizeipräsidium, hatte ihn nur ein einziges Mal gereizt. Das war vor rund zwei Jahren gewesen, als er den letzten Fall in seiner beruflichen Karriere löste, bevor er aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war.
Sein geringes Interesse für den Sport hatte sich deutlich gezeigt, als er es ablehnte, als Ehrengast wegen seiner Verdienste für die Alemannia bei der Eröffnung des neuen Tivoli direkt neben dem Reitstadion teilzunehmen. Böhnke war lieber zu Hause geblieben in Huppenbroich, statt nach Aachen zu fahren. Hier, in dem knapp 400-Seelen-Dorf, lebte er nach dem Umzug aus der Kaiserstadt in seiner Wohnung, die eigentlich die Ferienwohnung seiner langjährigen Lebensgefährtin war. Hier, in diesem umgebauten Hühnerstall fühlte er sich wohl, hier hatte er seine Ruhe, hier konnte er in der Idylle der harmonischen Eifellandschaft sein Leben genießen oder, wie er unverblümt und ohne Bedauern sagte, die letzten Tage seines irdischen Daseins, bevor er das Zeitliche segnen musste. Seine Lebensperspektive und Erwartung für das Alter waren nicht die Besten. Jeder Tag konnte sein letzter sein auf Erden. Von jetzt auf gleich, ohne jegliche Vorwarnung konnte die tückische Erkrankung zuschlagen, unter der er litt und für die die Ärzte keinerlei Erklärung liefern konnte. Heilungschancen sahen die Mediziner nicht, bei regelmäßigen Blutuntersuchungen konnten die Internisten allenfalls feststellen, dass es in seinem Blutbild keine gravierenden Verschlechterungen gegeben hatte, aber sie konnten nicht feststellen oder gar bewirken, dass sein Blutbild bessere Werte aufweisen würde. Sein Blut verlor mehr und mehr die Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren. Warum? Was war dagegen zu tun? Wie war der Verlust zu stoppen? Wie konnte geholfen werden? Fragen über Fragen, aber keine einzige Antwort. Mit dieser Erkenntnis musste Böhnke leben, und er hatte sich vorgenommen, wegen dieser Erkenntnis den
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