Summer Westin: Verhängnisvolle Spuren (German Edition)
die Tasche zurück.
So was Dummes! Wenn jemand sie hätte umbringen wollen, hätte er es inzwischen längst geschafft. In jedem der Räume hätte sie in eine Falle laufen können. Sie hatte laut nach Zack gerufen. Falls wirklich jemand sie beobachtete, hatte er es nicht eilig, ihr etwas anzutun. Vielleicht war der Dieb doch Kojoten-Charlie. Scotty McElroy hatte gesagt, dass ihnen Sachen gefehlt hätten, nachdem Charlie gegangen war. Verbrachte er so seine Zeit? Indem er Wanderer ausspionierte und Vorräte stibitzte?
Doch selbst wenn er ein Dieb war, war er dann auch ein Mörder? Sie hatte ihn sich immer als eine Frohnatur vorgestellt, wie den Früchte austeilenden Wanderer, den sie gestern auf dem Weg zu ihrem Lager getroffen hatte.
Die Worte des komischen Kauzes gingen ihr durch den Kopf. Er hatte vom Schöpfer gesprochen, genau wie Perez, als er den Namen Starchaser erklärt hatte. Bezogen sich die Ureinwohner so auf Gott? Der Mann hatte weder einen Rucksack noch eine Wasserflasche dabei gehabt und hatte gesagt, er sei »für immer hier draußen«.
Hatte sie mit Kojoten-Charlie gesprochen?
Sie verglich die Erinnerung an den Wanderer mit dem Anblick von Kojoten-Charlie gestern Nacht im Mondlicht. Die Kleidung war eine andere gewesen. Aber schlank waren beide. Beim Gedanken an den Wanderer fühlte sie sich ein wenig sicherer. Er hatte weder bedrohlich noch gewalttätig gewirkt. Und auch nicht so schleimig wie der merkwürdige Wilson. Vielleicht ein Spinner, wie McElroy es beschrieben hatte, aber keineswegs psychotisch.
Hatte sie sich die Hilfeschreie des kleinen Jungen nur eingebildet? Sie fühlte nach dem Reifen in ihrer Tasche. Zumindest der war real.
»Zack?«, fragte sie laut in die Dunkelheit hinein. Dann: »Charlie?« Keine Antwort.
Sie holte den Kerzenstumpf wieder heraus und zündete ihn noch einmal an. Im flackernden Licht erwies sich der Haufen in der Mitte des Raums als eine Ansammlung von Steinen und Schmutz. Knotige Wurzeln hingen aus einem Loch in der Decke wie ein avantgardistischer Kronleuchter. Der Riss im Dach war für den grünen Schleim verantwortlich, der den Boden des Raums bedeckte. Sam kniete sich hin und sah sich die feuchten Flechten genauer an.
Mehrere Abdrücke waren zu sehen. Verwischte Umrisse von Zehen und geriffelten Sohlen wiesen in alle möglichen Richtungen. Sie ging um den Haufen in der Mitte herum. Große Teile der Flechten waren von den Steinen abgekratzt. Auf einem Stück samtigen Mooses fand sich der Abdruck eines großen Zehs.
Konnte sie sich auf die Steine stellen und durch die Öffnung ziehen? Möglich. Sie würde sich strecken müssen. Und wahrscheinlich war es nicht besonders schlau, so etwas zu tun, denn das Dach hatte sich ja schon als baufällig erwiesen. Doch die Öffnung könnte gut Charlies geheimer Durchschlupf sein; er war groß genug und so dünn, dass er leicht durch das Loch schlüpfen konnte. Vielleicht fand sie oben eine versteckte Leiter oder einen Tunnel, der zur Mesa führte. Und falls Fred Fischer die Ruinen auch genutzt hatte, dann bestand eine kleine Chance, dass sie Zack in einer verborgenen Kammer entdeckte.
Sam stellte die Kerze auf den Boden und holte die Leiter aus dem anderen Haus. Die Wurzeln machten es schwer, sie richtig anzulegen, doch schließlich gelang es ihr. Vorsichtig stieg sie auf die erste Stufe und rechnete fast damit, das Dach würde unter dem Gewicht der Leiter zusammenbrechen. Doch nichts passierte. Sie stellte den zweiten Fuß auf die Sprosse und wippte. Wasser tropfte aus den Wurzeln auf Kopf und Schultern, Staub rieselte auf ihr Haar, aber weder Steine noch Mörtel kamen herunter. Sam nahm die Kerze und stieg vorsichtig nach oben, diesmal darauf bedacht, nicht erneut Wachs auf die Finger zu bekommen.
Um das Loch herum wirkten Flechtwerk und Lehm solide, die Wacholderwurzeln hielten das Dach wie ein überdimensionales Spinnennetz zusammen. Sam griff nach dem schlanken Stamm und zog sich nach oben. Auf den Knien sah sie sich um.
Die Kerze flackerte schon bedenklich, der Stumpf maß nur noch wenige Millimeter. Links lag das anschließende Gebäude, hinter ihr die Felswand. Irgendwo im Dunkeln über ihr erhob sich der Kalksteinbogen, von dem sie rechts das mit Moos bewachsene untere Ende sah. Sie krabbelte hin und presste einen Finger in samtige, feuchte Kissen. Die Ruinen lagen am Ende der unterirdischen Kammern des Curtain. Beim letzten Erdbeben musste es einen Riss in der Felswand gegeben haben, sodass die
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