Suna
fürchte mich.«
»Sind es denn keine guten Nachrichten?«
»Doch, Onkel, doch, gute sind es.«
»Warum redest du dann nicht, Cem?«
»Es sind Nachrichten von Suna.«
Und dann liest Cem ihm einen Brief vor, er übersetzt ihn, während er liest, und ein Vater darf ein Trauergewand ablegen, weil nicht stimmt, was er geglaubt hat, all die Jahre.
Weil nicht stimmt, was er gedacht hat, all die Jahre, weil Suna lebt und zu ihm spricht, in traurigen Worten und in schönen.
Cem liest einen Brief und holt weitere Bilder hervor, und es gibt keinen Zweifel mehr – Suna lebt.
»Sie hat gesagt, sie ist gestorben«, sagt er zu Cem, »das hat sie gesagt.«
»Es gibt eine Redewendung«, sagt Cem und erklärt ihm, wie es geht im Deutschen, über einen Menschen zu sprechen, als wäre er gestorben, obwohl er es nicht ist, es ist nur ein Bild.
»Ein Bild?«
»Ein Bild«, sagt Cem.
Ein Vater darf ein Trauergewand ablegen und an seine Tochter schreiben, die folgenden Worte:
Meine liebe Tochter Suna,
bevor ich hier meine Zeilen niederschreibe, grüße ich Dich aus ganzem Herzen und küsse Deine Augen.
Meine Tochter, Du erzähltest mir hier Deine Lebensgeschichte, die mich sehr traurig gestimmt hat, aber am Ende ist kein Platz mehr für Tränen, am Ende freue ich mich darüber, dass Du Dein Leben wiedergewonnen und es sehr fest im Griff hast. Halte es fest. Fester, als ich es halten konnte, und glaube mir, ich wollte es festhalten.
Mein Leben zum damaligen Zeitpunkt war sehr traurig, denn ich wollte wieder zurückkommen, nachdem ich in der Türkei mein Militär absolviert hatte.
Es sollte nicht so sein, das Leben hat uns so weit auseinandergebracht, viele tausend Kilometer. Das Schicksal hat es so gewollt, und wer weiß, wofür das gut ist.
Aber ich sehe Dich vor mir, während ich diese Worte an Dich zu richten versuche, die ungelenk sind und zu klein für das, was ich Dir sagen möchte.
Ich denke, wenn ich Dir von meinem Leben erzählen würde, würden zehn Seiten dazu nicht ausreichen. Nur so viel: Hier ist das Leben sehr schwer. Ich hoffe, dass ich bei der nächsten Reise von Cem wieder von Dir höre und wir uns einige Zeilen schreiben können. Ich grüße Dich erneut und küsse Deine Augen.
Auch Deine Kinder und Deinen Mann grüße ich sehr herzlich und küsse auch sie.
Pass bitte gut auf Dich auf,
Dein Vater Kamil.
Vorhin habe ich dich noch getragen durch unsere leere Wohnung, damit du einschläfst. Wie leicht das jetzt geht und wie schwer du sein kannst! Schwer, wie Kinder es werden, wenn sie eingeschlafen sind und alle Anspannung gewichen ist aus ihrem Körper.
Mit dir sind die Träume gekommen, kızım , und mit dir ist mir bewusst geworden, dass mein Vater Kamil nicht nur mein Vater, sondern auch dein Großvater ist.
Durch dich und deinen Bruder durfte ich mich einreihen in eine Kette von Ahnen und Familien, die weit über das hinausgeht, was ich mir bis dahin unter »Familie« vorgestellt – und abgelehnt hatte.
Mit dir habe ich begonnen zu begreifen, dass man Worte finden muss – und weinen darf über das, was zerbrochen ist. Damit es nicht zum Nebel wird, der uns alle erstickt.
Erst da konnte ich damit beginnen, zerrissene Fäden wieder zusammenzuknüpfen, um eine Geschichte zu Ende zu bringen, und, ich scheue mich nicht, das zu sagen, ein Wunder zu erleben. Jetzt scheue ich mich nicht mehr.
Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass es für mich einen Vater gibt und mit ihm einen so großen Raum, worin ich einen so selbstverständlichen Platz hatte. Dass es Geschwister gibt und Großeltern, Onkel, Tanten und Cousinen, bei denen ich lebte, obwohl sie dachten, ich wäre gestorben.
Weißt du, was ich gelernt habe auf meiner Reise in die Vergangenheit? Ich habe gesehen, wie bedeutungsvoll die kleinsten Gesten werden, wenn man versucht, vor ihnen davonzulaufen, und wie federleicht die schwersten Entscheidungen, wenn man lernen kann, sie anzunehmen als das, was gewesen ist.
Frei von Schuld.
Ich habe dir erzählt, was ich gefunden habe, weil ich möchte, dass du früher verstehst als ich, dass niemand von uns unabhängig sein kann von der Geschichte seiner Vorfahren, sogar dann nicht, wenn wir ihnen noch nie begegnet sind.
Dass man dünn wird und dünner, wenn man nicht aufhört, mit dem Rücken an den Wänden des eigene Lebens entlangzugleiten, nur weil man nicht weiß, wer man ist.
So habe ich geträumt und sogar eine neue Sprache gelernt. Ich bin an die Grenzen gestoßen dessen, was
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