Todeskette
Prolog
Als Tweed, der stellvertretende Direktor des SIS, an einem herrlichen Märztag südlich von London eine breite Landstraße entlangfuhr, konnte er nicht ahnen, dass er sich bereits mitten im seltsamsten Fall seiner langen Karriere befand – die Jahre, in denen er als Scotland Yards bester Ermittler gegolten hatte, mit eingeschlossen.
Neben Tweed auf dem Beifahrersitz saß, eine aufgeschlagene Landkarte auf den Knien, seine Assistentin Paula Grey, die ihn ein paar Minuten zuvor von der Autobahn auf diese Straße gelotst hatte. Rechts und links von der Fahrbahn befanden sich hohe Hecken, an deren Zweigen schon das erste, in der Frühlingssonne leuchtende Grün zu sehen war, und in den Gärten der Häuser, die sie passierten, blühten Krokusse und Osterglocken.
»Was für ein herrlicher Tag«, sagte Paula. Sie war Mitte dreißig, schlank und attraktiv und hatte schulterlanges tiefschwarzes Haar.
»Sind Sie sicher, dass dies der richtige Weg ist?«, fragte Tweed.
»Natürlich«, erwiderte Paula und blickte von der Landkarte auf. »Das alte Herrenhaus Hengistbury Manor liegt ziemlich weit ab vom Schuss mitten in einem ausgedehnten Waldgebiet. Eigentlich ein seltsamer Ort für die Zentrale einer Bank.«
»Die Main Chance Bank ist nicht irgendeine Bank«, sagte Tweed. »Buchanan hat mir erzählt, dass sie zu den reichsten Privatbanken auf der ganzen Welt gehört.«
Alles hatte am Morgen begonnen, als Tweed ins Hauptquartier des SIS an der Park Crescent in London gekommen war. In seinem großen Büro im ersten Stock hatten bereits drei seiner wichtigsten Mitarbeiter auf ihn gewartet. Der groß gewachsene Exjournalist Bob Newman hatte sich in einen der Sessel gefläzt, der aus einer Arbeiterfamilie stammende Harry Butler hatte sich wie üblich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt, und Paula saß an ihrem Schreibtisch vor einem der Fenster.
Kaum hatte sich Tweed hinter seinem antiken Schreibtisch niedergelassen, den ihm seine Mitarbeiter vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatten, da klingelte auch schon das Telefon. Tweed machte ein erstauntes Gesicht. Wer rief einen denn bereits um acht Uhr morgens an?
Tweeds langjährige Sekretärin Monica, eine Frau in mittleren Jahren mit streng hochgestecktem Haar, hob den Hörer ab und meldete sich. Nachdem sie eine Weile zugehört hatte, hielt sie die Sprechmuschel des Hörers zu und sagte zu Tweed: »Commander Buchanan möchte Sie dringend sprechen.«
»Ist das nicht ein bisschen früh, Roy?«, fragte Tweed, nachdem er abgehoben und Paula signalisiert hatte, dass sie an ihrem Telefon mithören sollte.
»Es handelt sich um eine Art Notfall«, erklärte Buchanan aufgeräumt und fuhr fort: »Ich möchte Sie wieder einmal um einen Gefallen bitten, Tweed. Sie kennen doch die Main Chance Bank, das reichste Geldinstitut hierzulande – wenn nicht auf der ganzen Welt. Die Bank ist völlig unabhängig und nicht an der Börse notiert. Sie gehört einer gewissen Bella Main, einer beeindruckenden alten Dame im gesegneten Alter von vierundachtzig Jahren. Ich habe sie letztes Jahr auf einer Party kennengelernt, und jetzt hat sie mich angerufen und mich gefragt, ob Sie nicht bei ihr vorbeischauen könnten. Wäre es Ihnen vielleicht möglich, sie noch heute aufzusuchen?«
»Wo finde ich sie denn?«
»Auf dem Stammsitz der Familie im Hengistbury Forest.«
»Und wo ist das, bitte schön?«
Paula, die einen Straßenatlas aus ihrer Schreibtischschublade gezogen hatte, gab Tweed ein Zeichen. Sie hatte den Wald bereits gefunden.
Tweed nickte ihr zu und wandte sich wieder an Buchanan. »Vergessen Sie meine Frage und erklären Sie mir lieber, weshalb diese Bella Main ausgerechnet mich sehen will.«
»Das hat sie mir nicht gesagt, aber es ist mir wichtig, dass Sie ihr auf den Zahn fühlen.«
»Wieso das?«, fragte Tweed bärbeißig.
»Weil man in der Regierung der Meinung ist, dass bei der Bank irgendwas faul sein könnte.«
»Inwiefern?«
»Das weiß ich nicht.« Buchanan hatte einen fast verzweifelten Unterton in der Stimme. »Ich weiß nur, dass man von höchster Stelle aus Druck auf uns ausübt. Vielleicht haben ein paar reiche Minister Geld auf der Bank, keine Ahnung. Ich kann mich im Moment um die Sache nicht kümmern, weil ich viel zu viel Stress mit meinen anderen Aufgaben habe. Sie wissen ja, dass man mich zum Commander der Anti-Terror-Truppe ernannt hat. Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Es könnte wichtig sein…«
»Wichtig weshalb?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie
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