Tag der Buße
stolperte er über seine Schuhe und stieß sich den Zeh. Leise vor sich hinfluchend zog er seinen Schlafanzug aus, ging zur Kommode und stellte fest, daß Rina ausgepackt hatte. Sie hatte seine Sachen ordentlich in der ersten und zweiten Schublade verstaut. Seine Beretta hatte sie unter einen Stapel Unterhemden gelegt, die Magazine ganz nach hinten unter seine Unterhosen. Gott segne eine tüchtige Frau.
Er probierte eine Tür in der westlichen Wand. Sie ging etwa halb auf, dann stieß sie gegen das Bettgestell. Er quetschte sich durch die Öffnung und befand sich in einem winzig kleinen Badezimmer – Waschbecken, Dusche und Toilette. Das Bad war mit alten weißen Fliesen gekachelt, und es roch nach Desinfektionsmittel. Aber immerhin hatte jemand saubere Handtücher hingelegt. Er nahm eine lauwarme Dusche; das heiße Wasser hatten andere vor ihm verbraucht. Beim Einseifen stieß er mit den Ellbogen gegen die Wände, und er mußte sich ein ganzes Stück hinunterbeugen, um den Kopf unter die Dusche zu kriegen.
Er trocknete sich ab und begann sich anzuziehen. Er hatte Gänsehaut. Wenn das Bett ausgeklappt war, gab es im Zimmer kein Fleckchen, wo man stehen und sich anziehen konnte. Deshalb zog er die Laken gerade und schob die Matratze in das Sofa. Dann legte er die Kissen auf die Couch.
Ein bißchen mehr Platz, aber Walzer hätte man hier immer noch nicht tanzen können.
Er zog eine graue Gabardinehose, ein weißes Hemd und ein Paar schwarze geschnürte Halbschuhe an. Hier lief man nicht im Sweatshirt herum. Während er den Gürtel durch die Schlaufen zog, merkte er, daß er sich ohne Schulterholster und Waffe buchstäblich leichter fühlte. Allerdings auch ein bißchen verletzlicher. Er nahm eine schwarze Jarmulke, steckte sie im Haar fest und sprach rasch die Schacharit – die Morgengebete. Dann ging er nach unten, um zu sehen, was ihn da erwartete.
Er schwor sich, er würde gut gelaunt sein. Er schwor sich, freundlich zu sein. Aber er war unleidlich, die Muskeln in seinen Beinen waren immer noch verkrampft. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Entspann dich.
Im Wohnzimmer war niemand. Es war ebenfalls sehr klein. Die Wände waren bis zu den Stuckverzierungen an der Decke elfenbeinfarben gestrichen und mit billigen Landschaftsdrucken behängt. Der ehemals langflorige grüne Teppich war so stark abgenutzt, daß er fast platt war. Die Sofas waren mit einem wollweißen Samt überzogen, die Armlehnen ebenso wie die Lampenschirme mit Plastik bedeckt. Man hätte den Raum als alt und muffig beschreiben können, hätte nicht überall Kristall geblinkt. Auf dem Kaffeetisch, auf den Beistelltischchen, in einer Vitrine, im anschließenden Eßzimmer. Karaffen, Vasen, Schalen und Kelchgläser. Zum Teil war das Glas so kunstvoll geschliffen, daß es das trübe Licht von draußen auffing und in tausend Farben brach. Andere Stücke – glatt oder mit eingeätzten Ornamenten – schimmerten in tiefdunklen Tönen.
Auf dem Kristall war kein einziges Fleckchen, nicht einmal ein Staubkörnchen zu sehen. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus waren, war das wohl Mamas ganzer Stolz.
Den Tisch im Eßzimmer hatte man so weit ausgezogen, daß er praktisch an das Sofa im Wohnzimmer stieß. Genügend Platz für vierzig Personen. Die gesamte untere Etage war von Essensgerüchen erfüllt – der Duft von Braten, würzigen Fleischpasteten, frischgebackenem Brot und süßem Gebäck. Decker merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
Aus der Küche tönte helles Geplapper. Bei all dem Krach hatten die Frauen ihn nicht die Treppe herunterkommen gehört. Er blieb in der Küchentür stehen und wartete, daß ihn jemand bemerkte. Sora Lazarus, Rinas Ex-Schwiegermutter, sah ihn als erste. Sie war eine kleine kompakte Frau mit großen braunen Augen und dicken Lippen. Ihre Haare steckten unter einem großen Kopftuch, und sie hatte etwas Mehl im Gesicht. Sie trug eine weiße Schürze, lächelte ihn an und stieß freudige Laute aus, die er als Begrüßung interpretierte.
»Haben Sie gut geschlafen?« fragte Sora Lazarus.
»Ja, danke.«
Rina kam aus dem hinteren Teil der Küche und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie lächelte ihn an, und sofort schmolz er dahin. Selbst in einem legeren Hauskleid sah sie hinreißend aus. Strahlend blaue Augen, pechschwarzes Haar, zarter Teint und volle rote Lippen. Ganz zu schweigen von der Figur. Und jetzt war sie offiziell Mrs. Decker. Zwei lange,
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