Tag der Buße
Rina hatte von ihm fort gemußt, hatte regelrecht das Bedürfnis gehabtzu flüchten. Und war dann ausgerechnet nach Boro Park gezogen.
Das überraschte ihn.
Es war eine kleine Gemeinde, in der man sich schnell zurechtfinden konnte. Die numerierten Straßen waren eine reine Wohngegend – kleine Reihenhäuser aus Backstein. Jedes Haus hatte zwar irgendein individuelles Detail, aber insgesamt waren sie schwer auseinanderzuhalten. Von Gartengestaltung konnte kaum die Rede sein – kleine braune Rasenstücke, kahle Bäume, kein einziger Farbtupfer – weder Blumen noch Sträucher. Doch das war vielleicht kein faires Urteil. Im Osten fiel das Laub in der kalten Jahreszeit ab. Er hatte nach den Gegebenheiten von Los Angeles geurteilt, wo das Gras das ganze Jahr über grün war. Rina hatte ihm erzählt, daß diese Häuser eine Million und mehr kosteten. Das hatte selbst einen Angeleno wie ihn erstaunt, der in dieser Hinsicht einiges gewohnt war.
Er atmete tief durch. Die Kälte prickelte ihm in der Nase, genau wie die Gerüche, die aus beschlagenen Küchenfenstern drangen. Ab und zu hörte man Geschrei – eine Mutter, die mit ihren Kindern schimpfte, ein Ehekrach, eine Tür, die zuknallte. In dieser Stadt legte man offenbar keinen allzu großen Wert auf Privatsphäre. Aber sonst könnte man hier wohl auch nicht überleben, so dicht wie die Häuser nebeneinander standen. New York – es war bereits überfüllt und wurde immer noch voller. Die Menschen waren so eingepfercht. Decker hätte die Stadt am liebsten mit dem Ellbogen in die Rippen gestoßen.
Mach mir ein bißchen Platz, Mama.
Die Geschäfte konzentrierten sich offensichtlich auf die breiteren Straßen. Die Schaufenster starrten wie riesige Augen auf schmale Streifen aus rissigem Asphalt. Das Angebot der Läden war ganz auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gemeinschaft ausgerichtet.
IZZY’S HATS – FEIERTAG-SONDERANGEBOTE ZUM RÄUMEN. Der Laden war nichts weiter als ein Flur mit Ständern voller schwarzer Hüte.
ROCHEL’S SCHEJTELS – diesmal waren die Ständer voller Perücken, als ob ein Skalpierer reiche Beute gemacht hätte.
CANNERY ROW – ein Laden, der koschere Lebensmittel verkaufte, abgepackt oder in Dosen. Alle Produkte waren von der Union Orthodoxer Rabbiner genehmigt. Das Haus hatte zwei Stockwerke. Im oberen residierte Mendel, der Schreiber.
Deshalb war auf dem oberen Fenster zu lesen: MENDEL, DER SCHREIBER: KETUBBAS UND GETS.
Heirats- und Scheidungsurkunden. Mendel war ein Mann für alle Lebenslagen.
Neben CANNERY ROW war GAN EDEN – der Garten Eden. Hier wurde nur Obst und Gemüse verkauft. Drinnen stand eine lange Theke, die mit einer dicken Plastikplane abgedeckt war. Darauf prangte ein handgeschriebenes Schild wie eine Flagge auf einem Schiff und wies darauf hin, daß frischer Meerrettich im Angebot war.
Viele kleine Läden waren mit eisernen Scherengittern fest verschlossen. Die Schaufensterscheiben waren mit der Zeit ganz blind geworden. Für die Gestaltung der Ladenschilder gab es offenbar keine festgelegten Regeln – einige waren aus Neon, andere wurden von altmodischen blinkenden Glühbirnen erleuchtet, wieder andere waren von Hand beschriftet. In den Türen der jüdischen Läden hingen Plakate mit den hebräischen Worten: SCHANA TOWA TIKATEWU.
Ein frohes neues Jahr. Mögest du eingeschrieben sein in das Buch des Lebens.
Zwischen den Geschäften waren Schtiebels – kleine, schmucklose Synagogen, viele ohne festen Rabbi. Alle hatten Tafeln angebracht, auf denen sie den Leuten ein frohes neues Jahr wünschten.
Er mußte an das Motto dieses Feiertages denken: Nur drei Dinge können den göttlichen Schuldspruch abwenden. Zehn Tage lagen zwischen dem Neujahrsfest und dem Versöhnungstag – dem heiligsten Tag im jüdischen Kalender. Zehn Tage, um die in Gedanken und die tatsächlich begangenen Verfehlungen wiedergutzumachen. Sünden wurden getilgt, indem man die Seele ins Gebet versenkte, Buße tat und Nächstenliebe übte. Zehn Tage gaben einem Zeit, mal richtig auszuspannen, dachte er.
Ein Stück weiter die Straße hinunter lag GLUCK’S SEPHARDIM: RELIGIÖSE BÜCHER UND ARTIKEL. Decker schielte durch das Stahlgitter ins Fenster. Der Laden sah staubig aus. Aber vielleicht wirkte er auch nur so staubig, weil er bis obenhin mit Büchern vollgestopft war. Sie standen offenbar in Zweier- und Dreierreihen in den Regalen, die bis zur Decke reichten. Wußte der Besitzer überhaupt noch, was er da alles hatte?
Yeah, vermutlich
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