Tag der Entscheidung
Hohen Priester. Ein Erhabener durfte gehen, wohin er wollte, doch selbst die Magier beachteten die Tradition. Und nach der Tradition betraten Magier einen Tempel niemals ohne Erlaubnis.
Shimone verhielt sich die ganze Zeit ruhig.
Glücklicherweise mußten sie nur kurz warten. Der Hohe Priester des Todesgottes hatte noch von dem Besuch mit Mara seine Robe an. »Womit kann ich Euch dienen, Erhabene?« Seine Verbeugung war formell und exakt in dem Grad der Ehrerbietung für einen seines erhabenen Ranges.
Tapek hielt seine Verärgerung zurück. »Wir suchen die Lady Mara, um ihr einige Fragen zu stellen.«
Der Priester richtete sich mit betroffenem Blick auf. »Das ist bedauerlich, Erhabener. Die Lady traf vor nicht langer Zeit hier ein, etwas verwirrt wegen persönlicher Probleme. Ich habe ihr meinen Rat angeboten, konnte sie jedoch nicht trösten. Auf ihren Wunsch zog sie sich ins innere Heiligtum des Tempels von Turakamu zurück. Sie hat die Abgeschiedenheit gewählt, Erhabener, zur Meditation und um Frieden zu finden. Wir können nur hoffen, daß mein Gott ihr die Kraft geben wird, ihre Schwierigkeiten zu überwinden.«
Tapek fühlte sich gereizt genug, um sich die Haare zu raufen, doch er beließ es dabei, die Kapuze zurückzuschieben. »Wie lange wird sie dort sein? Wir werden warten.«
Der Priester zitterte, möglicherweise vor Besorgnis, obwohl seine Augen erstaunlich ruhig wirkten, als er antwortete. »Es tut mir leid. Ich bezweifle, daß Lady Mara heute nacht herauskommen wird – und auch nicht in einer Nacht in nächster Zukunft. Sie hinterließ die Anweisung bei ihren Trägern, daß sie ihre Sänfte am Morgen auf ihre Güter bei Sulan-Qu zurückbringen sollen, denn sie würde einige Zeit hier in der Abgeschiedenheit weilen. Wochen zumindest, vielleicht sogar Monate.«
»Monate!« Tapek rutschte unruhig von einem Fuß auf den anderen, dann warf er dem Priester einen Blick zu. »Monate!« rief er erneut aus. Seine Stimme hallte über den leeren Platz. Der Erhabene fuhr gehässig mit seiner Tirade fort: »Ich kann kaum glauben, daß eine so ungewöhnliche Frau wie Lady Mara sich zu dieser vorgerückten Stunde Sorgen um ihren geistigen Zustand macht.«
Der Priester zupfte an seiner Robe, als suchte er seine von den Göttern übermittelte Würde. »Erhabener, eine Sterbliche mag zu jeder Zeit um den Zustand ihrer Seele beunruhigt sein«, berichtigte er sanft; dann faltete er in glückseliger Haltung die Hände.
Tapek drängte vor, als würde er die Treppe emporstürmen und den Frieden des Tempelvorplatzes mit Gewalt verletzen wollen. Doch Shimones Hand schoß vor und hielt ihn zurück.
»Denk nach«, sagte der ältere Magier mit scharfer Stimme.
»Die Heiligkeit der Tempel reicht Tausende von Jahren zurück. Warum sollten wir eine so althergebrachte Tradition wie ein Heiligtum brechen, Tapek? Mara muß einmal herauskommen. Und wenn sie es nicht tut, haben wir auch, was wir wollen, oder nicht?«
Der rothaarige Magier sah aus, als hätte er in eine saure Frucht gebissen. »Du und Hochopepa und Fumita – ihr seid Narren, wenn ihr sie zu schützen versucht!« sagte er in einem stürmischen Flüsterton, den nur sein Kollege hören konnte. »Sie ist gefährlich!«
»So gefährlich wie eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen der Versammlung und den Tempeln?« fragte Shimone mit drohender Stimme.
Tapeks Wut schien sich etwas abzukühlen. »Du hast recht. Sie ist es nicht wert, daraus eine öffentliche Angelegenheit zu machen.«
Shimone nickte, still, doch zufrieden. Ein schwaches Summen erklang in der Luft, und als der Priester endlich bemerkte, daß die Auseinandersetzung vorüber war, waren die beiden Erhabenen in einer Brise und dem Echo von Tapeks Wut verschwunden.
Das Klacken der lcndes Handelsschiffes Coalteca wurde langsamer und hörte mit einem letzten dumpfen Schlag gegen die Ankerwinde ganz auf, als der schwere, lederumwickelte Steinanker eingeholt wurde. Der Kapitän bellte den Matrosen Befehle in die Takelung hinauf, damit sie die Geitaue lösten. Begleitet vom Quietschen der Falleinen stiegen die Rahnocken auf, und die mit leuchtenden Farben bemalten Segel blähten sich im Seewind. Mara hatte sich unter Deck zurückgezogen und ging in der winzigen Heckkabine auf und ab. Wie sehr sie sich auch danach sehnte, das Segelsetzen des Schiffes im Freien mitzuerleben – es war notwendig, daß sie sich versteckt hielt. Noch immer ärgerte Mara sich über den wochenlangen Verzicht auf frische
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