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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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wagten. Es schien, als sei man stillschweigend übereingekommen, ihn von jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu entbinden. Vor allem machte es den Eindruck, als wollte man ihn verhindern, das letzte Knarren und Ächzen seines sterbenden Körpers mit eigenen Ohren zu vernehmen, und deshalb hüllte man ihn fast mit Gewalt in Watte oder versuchte durch Liebkosungen dies Schwere zu überwinden.
    Er durfte jetzt lange und reizvolle Stunden tête-à-tête mit sich selbst verbringen, mit dem einzigen Gast, den er während seines Lebens zum Abendessen einzuladen vergessen hatte. Er fand seine melancholische Freude daran, seinen leidenden Körper aufzuputzen, seine Ergebung an das Fenster zu lehnen und das Meer zu betrachten. Rings um seine Todesszene setzte er einen Kreis von Bildern dieser Welt, von der er noch ganz erfüllt war, welche ihm aber die Entfernung (die ihren Scheidestrich dazwischen gesetzt hatte) schon mit unbestimmter Schönheit schmückte; und so glich diese Todesszene, im voraus ausgedacht, aber andauernd weiter retuschiert, einem Kunstwerk, ganz erfüllt von der heißesten Trauer. Schon erstand in seiner Phantasie sein Abschied von der Herzogin von Oliviane, seiner großen platonischen Freundin, deren Salon er beherrschte, obwohl die größten Herren, die berühmtesten Künstler und Literaten Europas dort versammelt waren. Es war ihm, als läse er schon die Beschreibung ihrer letzten Unterhaltung: »… Die Sonne war schon untergegangen, und das Meer, das man durch die Zweige der Apfelbäume erblickte, war malvenfarbig. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen schwebten am Horizont, so zart wie lichte welke Kränze, immer wechselvoll wie Klagen. Eine melancholische Reihe von Pappeln tauchte im Dunkel unter, ihre ergebenen Wipfel versanken, in einem Rosa leuchtend, wie es die Scheiben alter Kirchen haben. Die letzten Strahlen konnten nicht bis zu ihren Stämmen durchdringen und färbten bloß ihre Äste, die schattenhaften Balustraden mit Lichtgirlanden behängend. Die Brise vereinte den Duft von Meer, von feuchtem Blattwerk und von Milch. Nie war die Landschaft von Sylvanien tiefer mit wollüstiger Glut und mit der Wehmut des sanften Abends durchtränkt.«
    »Ich habe Sie sehr geliebt, aber ich habe Ihnen wenig gegeben, mein armer Freund«, sagt sie zu ihm.
    »Was sagen Sie, Oliviane? Sie mir wenig gegeben? Sie haben mir tausendmal mehr gegeben, als ich je erbeten habe, und wahrhaftig unvergleichlich mehr, als wenn die niederen Sinne ihren Anteil an unserer Zuneigung gehabt hätten. Sie waren nicht von dieser Welt, waren hoch wie eine Madonna, sanft wie eine Amme, so habe ich Sie angebetet, so haben Sie mich auf Ihren Armen gewiegt. Ich habe Sie mit einer Zuneigung geliebt, deren zartfühlende Klarheit durch keine Hoffnung auf Sinnenfreude getrübt wurde. Sie brachten mir dafür eine unvergleichliche Freundschaft, einen auserwählten Tee, ein Gespräch voll natürlicher Schönheit und frische Rosen – weiß ich noch, wieviel? … Sie allein haben mit mütterlich beredten Händen meine im Fieber brennende Stirn kühlen können, haben Honig zwischen meine vertrockneten Lippen geflößt und schöne, edle Bilder in mein Leben gebracht.
    Liebe Freundin, geben Sie mir Ihre Hände, ich möchte sie küssen …«
    Es gab für ihn nichts mehr auf der Welt als die Gleichgültigkeit Pias, einer kleinen Syrakuser Prinzessin, die er mit allen Sinnen und von ganzem Herzen liebte (sie aber war in unversiegbarer, toller Leidenschaft zu Castruccio entbrannt), diese Gleichgültigkeit war es, die ihn von Zeit zu Zeit an eine rauhere Wirklichkeit erinnerte. Er bemühte sich, diese Wirklichkeit schnell zu vergessen. Noch in den letzten Tagen hatte er sich mit ihr auf Festen gezeigt, so glaubte er seinen Rivalen zu demütigen; aber auch dort sah er, wenn sie an seinem Arme ging, in ihren tiefen Augen nur den Widerschein einer Liebe zu dem andern; und wenn sie sie ihm verbarg, so war es nur aus Mitgefühl mit dem Kranken. Und nun konnte er sogar das nicht mehr. Seine Beine gehorchten ihm so wenig, daß er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte. Doch besuchte sie ihn oft, und als sei sie in die große Sanftheitsverschwörung der andern eingeweiht und aufgenommen, wandte sie sich stets zu ihm mit besonderer, sinnreich ausgedachter Zärtlichkeit, die niemals, wie früher sonst, vom Schrei ihrer unwilligen Kälte oder von dem Geständnis ihres Zornes Lügen gestraft wurde. Ihre Sanftheit war anders als die aller übrigen

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