Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
zusammen.
    Er wollte sich das Gesicht waschen lassen, um seine Schwägerin nicht durch die Spuren seines Schmerzes zu beunruhigen. Der Diener schüttelte traurig den Kopf; die Kranke hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Der Freiherr verbrachte zwei verzweifelte Tage und Nächte bei seiner Schwägerin. Sie konnte jeden Augenblick sterben. In der zweiten Nacht unternahm man einen äußerst kühnen Eingriff. Am Morgen des dritten Tages war das Fieber gesunken, und die Kranke lächelte Baldassar an, der seine Tränen nicht mehr halten konnte und vor Freude sich ausweinte. Als der Tod nach und nach zu ihm gekommen war, hatte er ihn nicht sehen mögen. Nun war er Angesicht zu Angesicht vor ihm gestanden. Der Tod hatte ihn mit Grauen erfüllt, als er das bedrohte, was Baldassar am teuersten war; doch dieser hatte ihn angefleht und hatte ihn gerührt.
    Er fühlte sich stark und frei, stolz in dem Bewußtsein, sein eigenes Leben sei ihm nichts gegen das seiner Schwägerin, und er wußte in sich ebensoviel Verachtung für den Tod wie Mitleid mit der geliebten Frau.
    Jetzt war es der Tod, dem er ohne Schleier ins Auge sah, und nicht die Szenen, die sein Ableben umgaben. So wollte er bis zum Ende bleiben, wollte nicht von der Lüge wiederergriffen werden, die ihm für den Preis einer schönen und feierlichen Sterbeszene alles entweiht und in den Staub gezogen hatte, die Geheimnisse seines Todes beschmutzend, wie sie ihn um die Geheimnisse seines Lebens betrogen hatte.
IV
Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silb’ auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narrn
Den Pfad des stäub’gen Tods. – Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn’ und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet. –
     
Shakespeare, Macbeth
     
    Die Aufregung und die Ermüdung Baldassars während der Krankheit seiner Schwägerin hatten den Lauf seines Leidens beschleunigt. Er hatte soeben von seinem Beichtvater erfahren, daß er nur noch einen Monat zu leben habe; es war zehn Uhr morgens, und es regnete in Strömen. Ein Wagen hielt vor dem Schloß. Es war die Herzogin Oliviane. Einst hatte er sich kunstvoll die Szene seines Todes ausgeschmückt:
    »… Es wird ein heller Abend sein. Die Sonne ist gerade untergegangen, und das Meer, welches man durch die Zweige der Apfelbäume erblickt, wird malvenfarben sein. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen werden am Horizont schweben, so zart …«
    Es war zehn Uhr morgens, der Himmel niedrig und schmutzig, der Regen goß in Strömen, als die Herzogin Oliviane kam. Er war ermüdet durch seine Krankheit, bereits einer höheren Welt ganz hingegeben; da fühlte er die Anmut der Dinge nicht, die ihm früher als der höchste Preis, als der Zauber und der feinste Triumph des Lebens erschienen waren. So ließ er der Herzogin sagen, er sei zu schwach. Sie wollte darauf bestehen, aber er mochte sie nicht empfangen. Es geschah nicht einmal aus dem Gefühl der Pflicht; sie bedeutete ihm nichts mehr. Schnell war es dem Tode gelungen, diese Sklavenbande zu lösen, die er vor einigen Wochen noch gefürchtet hatte. Er versuchte an sie zu denken, aber sah nichts vor sich erscheinen; denn die Augen seiner Phantasie und seiner Eitelkeit waren geschlossen.
    Trotzdem konnte kurz vor seinem Tode eine Bemerkung über einen Ball bei der Herzogin von Bohême seine wütende Eifersucht erwecken. Denn auf diesem Ball sollte Pia mit Castruccio, der am folgenden Tag nach Dänemark fuhr, den Kotillon führen. Er bat, man möge Pia kommen lassen; seine Schwägerin war nicht ganz dafür. Er glaubte, man wolle ihn verhindern, sie zu sehen, man verfolge ihn, er geriet in Wut, und um ihn nicht zu quälen, ließ man sie sofort holen.
    Als sie ankam, war er vollkommen ruhig, aber tief traurig. Er zog sie an sein Bett und sprach sofort von dem Ball der Herzogin von Bohême. Er sagte ihr:
    »Wir beide waren nicht verwandt, Sie werden nicht um mich Trauer tragen, aber ich habe doch eine Bitte an Sie: Gehen Sie nicht zu diesem Ball, versprechen Sie mir das.« Sie sahen sich in die Augen, zeigten einander ihre Seelen, die aus den Kreisen ihrer Augensterne strahlten, ihr leidenschaftliches Gefühl, das auch der Tod nicht hatte vereinen können.
    Er verstand ihr Zögern, zog die Lippen

Weitere Kostenlose Bücher