Tagebücher: 1909-1923
beherrscht, aber mehr in ihrer Einbildung als wirklich. Wenn sie sich an Löwy mit der wiederkehrenden Einleitung “Du, Löwy” wendete, sprach sie für mich, wenn sie sich an ihrem Mann drückte, der sie manchmal nur mit ihrer rechten Schulter beim Fenster ließ und ihr Kleid und den aufgebauschten Überzieher preßte, strengte sie sich an mir damit ein leeres Zeichen zu geben. Der erste Eindruck den ich bei den Vorstellungen hatte, daß ich ihr nicht besonders angenehm war, wird wohl der richtige gewesen sein, mich forderte sie selten zum Mitsingen auf, wenn so ohne Laune, wenn sie mich etwas fragte antwortete ich leider falsch (“verstehn Sie das?” ich sagte “ja” sie wollte aber “nein” um zu antworten “ich auch nicht”) ihre Ansichtskarten bot sie mir zum zweitenmal nicht an, ich bevorzugte Frau Tschissik, der ich zum Schaden der Fr. Klug Blumen geben wollte. Zu dieser Abneigung aber kam die Achtung vor meinem Doktorat, die sich durch mein kindliches Aussehn nicht abhalten ließ, ja sich eher dadurch vergrößerte. Diese Achtung war so groß, daß sie aus ihrer zwar häufigen, aber gar nicht besonders betonten Ansprache “Wissen Sie Herr Doktor” derartig klang, daß ich halb unbewußt bedauerte, sie viel zu wenig zu verdienen und mich fragte, ob ich nicht Anspruch hätte, von jedem eine genau gleiche Ansprache zu bekommen. Da ich aber von ihr als Mensch so geachtet war, war ich es als Zuhörer erst recht. Ich glänzte, wenn sie sang, ich lachte und sah sie an, die ganze Zeit während sie auf der Bühne war, ich sang die Melodien mit, später die Worte, ich dankte ihr nach einigen Vorstellungen; dafür konnte sie mich natürlich wieder gut leiden. Sprach sie mich aber aus diesem Gefühl an, war ich verlegen, hatte nichts zu sagen und machte sie verlegen, so daß sie sicher mit dem Herzen zu ihrer ersten Abneigung zurückkehrte und bei ihr blieb. Desto mehr mußte sie sich anstrengen mich als Zuhörer zu belohnen und sie tat es gern, da sie eine eitle Schauspielerin und eine gutmütige Frau ist. Besonders wenn sie dort oben im Coupeefenster schwieg, sah sie mich mit einem vor Verlegenheit und List verzücktem Mund und mit blinzelnden Augen an, die auf den vom Mund herkommenden Falten schwammen. Sie mußte glauben, von mir geliebt zu sein, wie es auch wahr gewesen ist, und gab mir mit diesen Blicken die einzige Erfüllung, die sie als erfahrene aber junge Frau, gute Ehefrau und Mutter, einem Doktor ihrer Einbildung geben konnte. Diese Blicke waren so dringend und von Wendungen, wie “es gab hier so liebe Gäste, besonders einzelne” unterstützt, daß ich mich wehrte und das waren die Augenblicke, in denen ich ihren Mann ansah. Ich hatte wenn ich beide verglich eine grundlose Verwunderung darüber, daß sie gemeinsam von uns wegfahren sollten und doch sich nur um uns bekümmerten und keinen Blick für einander hatten. Löwy fragte, ob sie gute Plätze hätten; ja wenn es so leer bleibt antwortete Fr. Klug und sah flüchtig in das Innere des Koupee, dessen warme Luft der Mann mit seinem Rauchen verderben wird. Wir sprachen von ihren Kindern denen zu Liebe sie wegfahren; sie haben 4 Kinder, darunter 3 Jungen, der älteste ist 9 Jahre alt, sie haben sie schon 18 Monate nicht gesehn. Als ein Herr in der Nähe rasch einstieg, schien der Zug wegfahren zu wollen, wir nahmen in Eile Abschied, reichten einander die Hände, ich hob den Hut und hielt ihn dann an die Brust, wir traten zurück, wie man es bei der Abfahrt von Zügen tut, womit man zeigen will, daß alles vorüber ist und man sich damit abgefunden hat. Der Zug fuhr aber noch nicht, wir traten wieder heran, ich war ganz froh darüber, sie erkundigte sich nach meinen Schwestern. Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. Klug bereitete ihr Taschentuch zum Winken vor, ich möchte ihr schreiben, rief sie noch, ob ich ihre Adresse wüßte, sie war schon zu weit, als daß ich ihr mit Worten hätte antworten können, ich zeigte auf Löwy von dem ich die Adresse erfahren könnte, das ist gut, nickte sie mir und ihm rasch zu und ließ das Taschentuch flattern, ich hob den Hut, zuerst ungeschickt, dann je weiter sie war, desto freier. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann. Im Halbschlaf am gleichen Abend erschien mir Frau Klug unnatürlich klein fast ohne Beine und rang die Hände mit
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