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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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gegen die Geschichte hielt ich förmlich das Kinn in die Brust gedrückt. Die ungeordneten Sätze dieser Geschichte mit Lücken daß man beide Hände dazwischen stecken könnte; ein Satz klingt hoch, ein Satz klingt tief wie es kommt; ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn; ein Satz kommt mit einem so rohen Anfang anmarschiert, daß die ganze Geschichte in ein verdrießliches Staunen geräth; eine verschlafene Nachahmung von Max (Vorwürfe gedämpft – – angefeuert) schaukelt hinein, manchmal sieht es aus wie ein Tanzkurs in seiner ersten Viertelstunde. Ich erkläre es mir damit, daß ich zu wenig Zeit und Ruhe habe um die Möglichkeiten meines Talentes in ihrer Gänze aus mir zu heben. Es kommen daher immer nur abreißende Anfänge zu Tage, abreißende Anfänge z. B. die ganze Automobilgeschichte durch. Würde ich einmal ein größeres Ganzes schreiben können wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende, dann könnte sich auch die Geschichte niemals endgiltig von mir loslösen und ich dürfte ruhig und mit offenen Augen als Blutsverwandter einer gesunden Geschichte ihrer Vorlesung zuhören, so aber lauft jedes Stückchen der Geschichte heimatlos herum und treibt mich in die entgegengesetzte Richtung. – Dabei kann ich noch froh sein, wenn diese Erklärung richtig ist.

    Aufführung von Bar-Kochba von Goldfaden.
    Falsche Beurteilung des Stückes im ganzen Saal und auf der Bühne. Ich hatte für Frau Tschissik einen Strauß mitgebracht mit eine r angehängten Visitkarte mit der Inschrift aus Dankbarkeit und wartete auf den Augenblick, wo ich sie ihr überreichen lassen könnte. Nun hatte die Vorstellung spät angefangen, die Hauptscene der Frau Tschissik war mir erst für den 4 Akt versprochen, vor Ungeduld und Angst die Blumen könnten welken, ließ ich durch den Kellner schon während des 3ten Aktes (es war 11 Uhr) die Blumen auspacken, nun lagen sie seitwärts auf einem Tisch, das Küchenpersonal und einige schmutzige Stammgäste reichten sie einander und rochen an ihnen, ich konnte nur besorgt und wütend hinschauen sonst nichts, während ihrer Hauptszene im Gefängnis liebte ich Fr. Tschissik und drängte sie doch innerlich Schluß zu machen, endlich war der Akt für meine Zerstreutheit unbemerkt zuende gegangen, der Oberkellner reichte die Blumen, Fr. T. nahm sie zwischen den zusammenschlagenden Vorhängen, sie verbeugte sich in einer kleinen Spalte des Vorhanges und kam nicht mehr zurück. Niemand bemerkte meine Liebe und ich hatte sie allen zeigen und dadurch für Fr. T. wertvoll machen wollen, kaum daß man den Strauß bemerkte. Dabei war schon 12 vorüber alles war müde, einige Zuschauer waren schon früher weggegangen, ich hatte Lust gehabt ihnen mein Glas nachzuwerfen. – Mit mir war der Kontrollor Pokorny aus unserer Anstalt ein Christ. Er, den ich sonst gern habe, störte mich. Meine Sorge waren die Blumen, nicht seine Angelegenheiten. Dabei wußte ich, daß er das Stück schlecht auffasse, während ich keine Zeit, Lust und Fähigkeit hatte ihm eine Hilfe aufzudrängen, die er nicht zu brauchen glaubte. Endlich schämte ich mich vor ihm, daß ich selbst so schlecht achtgab. Auch störte er mich im Verkehr mit Max und sogar durch die Erinnerung daran, daß ich ihn vorher gern hatte, nachher wieder gern haben würde und daß er mein heutiges Benehmen bel nehmen könnte. – Aber nicht nur ich war so gestört. Max fühlte sich wegen seines Lobartikels in der Zeitung verantwortlich. Den Juden in Bergmanns Begleitung war es zu spät. Die Mitglieder des Vereins Bar-Kochba waren wegen des Namens des Stückes gekommen und mußten enttäuscht sein. Da ich Bar-Kochba nur aus diesem Stücke kenne, hätte ich keinen Verein so genannt. Hinten im Saal waren zwei Ladenmädchen in ihrem Dirnenabendkleid mit den Liebhabern und mußten während Sterbescenen durch laute Rufe zur Ruhe gebracht werden. Endlich schlugen Leute auf der Gasse gegen die großen Scheiben aus Ärger darüber, daß sie so wenig von der Bühne sahen.
    Auf der Bühne fehlten die Klugs. Lächerliche Statisten. “Rohe Juden” wie Löwy sagte. Geschäftsreisende, die übrigens auch kein Honorar bekamen. Sie hatten meistens nur damit zu tun, ihr Lachen zu verbergen oder zu genießen, wenn sie es auch sonst gut meinten. Ein rundbackiger mit blondem Bart, demgegenüber man sich kaum vor Lachen beherrschen konnte, lachte infolge der Unnatur des angeklebten sich schüttelnden Vollbartes der seine Wangen bei dem

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