Tagebücher: 1909-1923
erfüllte und in welchen ich mich nicht nur an meinen Grenzen fühlte, sondern an den Grenzen des Menschlichen überhaupt. Nur die Ruhe der Begeisterung, wie sie dem Hellseher wahrscheinlich eigen ist, fehlte doch jenen Zuständen, wenn auch nicht ganz. Ich schließe dies daraus, daß ich das Beste meiner Arbeiten nicht in jenen Zuständen geschrieben habe. – Diesem Literarischen kann ich mich nun nicht vollständig hingeben, wie es sein müßte, undzwar aus verschiedenen Gründen nicht. Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Litteratur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben; überdies hindert mich auch meine Gesundheit und mein Charakter daran, mich einem im günstigsten Falle ungewissen Leben hinzugeben. Ich bin daher Beamter in einer socialen Versicherungsanstalt geworden. Nun können diese zwei Berufe einander niemals ertragen und ein gemeinsames Glück zulassen. Das kleinste Glück in einem wird ein großes Unglück im zweiten. Habe ich an einem Abend gutes geschrieben, brenne ich am nächsten Tag im Bureau und kann nichts fertig bringen. Dieses Hinundher wird immer ärger.
Im Bureau genüge ich äußerlich meinen Pflichten, meinen innern Pflichten aber nicht und jede nichterfüllte innere Pflicht wird zu einem Unglück, das sich aus mir nicht mehr rührt. Und zu diesen zwei nie auszugleichenden Bestrebungen soll ich jetzt die Teosophie als dritte führen? Wird sie nicht nach beiden Seiten hin stören und selbst von beiden gestört werden? Werde ich, ein gegenwärtig schon so unglücklicher Mensch die 3 zu einem Ende führen können? Ich bin gekommen Herr Doktor Sie das zu fragen, denn ich ahne, daß, wenn Sie mich dessen für fähig halten, ich es auch wirklich auf mich nehmen kann.
Er hörte äußerst aufmerksam zu, ohne mich offenbar im geringsten zu beobachten, ganz meinen Worten hingegeben. Er nickte von Zeit zu Zeit, was er scheinbar für ein Hilfsmittel einer starken Koncentration hält. Am Anfang störte ihn ein stiller Schnupfen, es rann ihm aus der Nase, immerfort arbeitete er mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein, einen Finger an jedem Nasenloch
Da sich der Leser gewöhnt hat, in den westeuropäischen zeitgenössischen Judenerzählungen gleich unter oder über der Erzählung auch die Lösung der Judenfrage zu suchen und zu finden, in den “Jüdinnen” aber eine solche Lösung nicht gezeigt und nicht einmal vermuthet wird, so ist es möglich daß der Leser kurz entschlossen darin einen Mangel der “Jüdinnen” erkennt, und nur ungern zusieht wenn Juden im Tageslicht herumgehn sollen ohne politische Aufmunterung aus Vergangenheit oder Zukunft. Er muß sich hiebei sagen, daß, besonders seit dem Aufkommen des Zionismus, die Lösungsmöglichkeiten um das jüdische Problem herum, so klar angeordnet liegen, daß es schließlich nur einer Körperwendung des Schriftstellers bedarf um eine bestimmte, dem vorliegenden Teil des Problems gemäße Lösung zu finden.
Ich ahnte bei seinem Anblick die Anstrengungen die er um meinetwillen auf sich genommen hatte und die ihm jetzt – vielleicht nur weil er müde war – diese Sicherheit gaben. Hätte nicht noch eine kleine Anspannung genügt und der Betrug wäre gelungen, gelang vielleic ht noch jetzt. Wehrte ich mich denn? Ich stand zwar hartnäckig hier vor dem Haus, aber ebenso hartnäckig zögerte ich hinaufzugehn. Wartete ich bis die Gäste kommen würden, mit Gesang mich zu holen?
15 August 1911 Die Zeit, die jetzt verlaufen ist und in der ich kein Wort geschrieben habe, ist für mich deshalb wichtig gewesen, weil ich auf den Schwimmschulen in Prag, Königssaal
und Czernoschitz aufgehört habe, für meinen Körper mich zu schämen. Wie spät hole ich jetzt mit 28 Jahren meine Erziehung nach, einen verspäteten Start würde man das bei einem Wettlaufen nennen. Und der Schaden eines solchen Unglücks besteht nicht vielleicht darin, daß man nicht siegt; dieses letzte ist ja nur der noch sichtbare, klare, gesunde Kern des weiterhin verschwimmenden grenzenlos werdenden Unglücks, das einen, der man doch den Kreis umlaufen sollte, in das Innere des Kreises treibt. Übrigens habe ich auch vieles andere in dieser zum kleinen Teil auch glücklichen Zeit an mir bemerkt und werde es in den nächsten Tagen aufzuschreiben versuchen.
20 VIII 11
Ich habe den unglücklichen Glauben daß ich nicht zur geringsten guten Arbeit Zeit habe, denn ich habe
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