Tagebücher: 1909-1923
wirklich nicht Zeit für eine Geschichte mich in alle Weltrichtungen auszubreiten, wie ich es müßte. Dann aber glaube ich wieder, daß meine Reise besser ausfallen wird, daß ich besser auffassen werde, wenn ich durch ein wenig Schreiben gelockert bin und so versuche ich es wieder.
Ich ahnte bei seinem Anblick die Anstrengungen, die er um meinetwillen auf sich genommen hatte und die ihm jetzt, vielleicht nur weil er müde war, diese Sicherheit gaben. Hätte nicht noch eine kleine Anspannung genügt und der Betrug wäre gelungen, gelang vielleicht noch jetzt. Wehrte ich mich denn? Ich stand zwar hartnäckig hier vor dem Haus, aber ebenso hartnäckig zögerte ich hinaufzugehn. Wartete ich bis die Gäste kämen, mit Gesang mich zu holen?
Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, daß man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verläßt sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung vor ihr läuft wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.
Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut (oben “stößt”) ich z. B. auf einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere. Erster und letzter Buchstabe sind Anfang und Ende meines fischartigen Gefühls.
24 August 1911
Mit Bekannten an einem Kaffeehaustisch im Freien sitzen und eine Frau am Nebentisch ansehn, die gerade gekommen ist, schwer unter großen Brüsten atmet und mit erhitztem, bräunlich glänzendem Gesicht sich setzt. Sie neigt den Kopf zurück, ein starker Bartanflug wird sichtbar, sie dreht die Augen nach oben, fast so, wie sie vielleicht manchmal ihren Mann ansieht, der jetzt neben ihr eine illustrierte Zeitung liest. Wenn man ihr doch die Überzeugung beibringen könnte, daß man neben seiner Frau im Kaffeehaus höchstens eine Zeitung aber niemals eine Zeitschrift lesen darf. Ein Augenblick bringt ihr ihre Körperfülle zum Bewußten und sie rückt ein wenig vom Tisch weg.
26. Aug. (1911) Morgen soll ich nach Italien fahren. Jetzt Abend konnte der Vater vor Aufregung nicht einschlafen, da er ganz von der Sorge um das Geschäft und von seiner dadurch aufgeweckten Krankheit ergriffen war. Auf das Herz ein nasses Tuch, Brechreiz, Luftmangel, seufzendes Hin- und Hergehn. Die Mutter in ihrer Angst findet neuen Trost. Immer sei er doch so energisch gewesen, über alles sei er hinweggekommen und jetzt – Ich sage daß der Jammer mit dem Geschäft doch nur ein 1/4 Jahr noch dauern könne, dann müsse doch alles gut werden. Er geht seufzend und den Kopf schüttelnd auf und ab. Es ist klar, daß von ihm aus gesehn, seine Sorgen durch uns nicht abgenommen und nicht einmal erleichtert werden, aber selbst von uns aus gesehn nicht, selbst in unserm besten Willen steckt etwas noch so traurige Überzeugung, daß er für seine Familie sorgen muß. – Später dachte ich, er liegt bei der Mutter, soll er sich doch an sie pressen, nahes verwandtes Fleisch muß beruhigen. – Durch sein häufiges Gähnen oder sein übrigens nicht unappetitliches In-die-Nase-greifen erzeugt der Vater eine kleine kaum zum Bewußtsein kommende Beruhigung über seinen Zustand, trotzdem er dies wenn er gesund ist im Allgemeinen nicht macht. Die Ottla hat es mir bestätigt. – Die arme Mutter will morgen zum Hausherrn bitten gehn.
26. Sept. 1911 Der Ze ichner Kubin empfiehlt als Abführmittel Regulin, eine zerstampfte Alge die im Darm aufquillt ihn zum Zittern bringt, also mechanisch wirkt zum Unterschied von der ungesunden chemischen Wirkung anderer Abführmittel, die bloß den Koth durchreißen ihn also an den Darmwänden hängen lassen. – Er ist mit Hamsun bei Langen zusammengekommen. Er feixt grundlos. Während des Gespräches, ohne daß er es unterbrochen hätte, hob er seinen Fuß aufs Knie, nahm vom Tisch eine große Papierschere und schnitt rund herum die Fransen seiner Hose ab. Schäbig angezogen mit irgend einem wertvolleren Detail z. B. Krawatte. – Geschichten von einer Künstlerpension in München, wo Maler und Veterinärärzte wohnten (die Schule der letzternwar in der Nähe) und wo es so verlottert zugieng, daß die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, von wo man eine gute Aussicht hatte vermietet wurden. Um diese Zuseher zu befriedigen, sprang manchmal ein
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