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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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besondere Aufmerksamkeit vorübergegangen, denn daß er immer nach beiläufig 30 Tagen kam, merkte ich erst viel später, und war der Erste also glücklich angekommen, fieng man allerdings nicht mit besonderem Entsetzen, was aber ohne Überprüfung zu dem andern Unverständlichen gelegt wurde, wieder vom Letzten zu reden an.

      Als ich gestern mittag zu W. kam, hörte ich die Stimme seiner Schwester, die mich begrüßte, sie selbst aber sah ich nicht, erst bis sich ihre schwache Gestalt vom Schaukelstuhl ablöste, der vor mir stand.
    Heute vormittag Beschneidung meines Neffen. Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führte die Sache sehr geschickt aus. Es ist eine dadurch erschwerte Operation, daß der Junge statt auf dem Tisch auf dem Schoß seines Großvaters liegt und daß der Operateur, statt genau aufzupassen, Gebete murmeln muß. Zuerst wird der Junge durch Umbinden, das nur das Glied frei läßt, unbeweglich gemacht, dann wird durch Auflegen einer durchlochten Metallscheibe die Schnittfläche präcisiert, dann erfolgt mit einem fast gewöhnlichen Messer einer Art Fischmesser der Schnitt. Jetzt sieht man Blut und rohes Fleisch, der Moule hantiert darin kurz mit seinen langnägeligen zittrigen Fingern und zieht irgendwo gewonnene Haut wie einen Handschuhfinger über die Wunde. Gleich ist alles gut, das Kind hat kaum geweint. Jetzt kommt nur noch ein kleines Gebet, während dessen der Moule Wein trinkt, und mit seinen noch nicht ganz blutfreien Fingern etwas Wein an die Lippen des Kindes bringt. Die Anwesenden beten: “Wie er nun gelangt ist in den Bund, so soll er gelangen zur Kenntnis der Tora, zum glücklichen Ehebund und zur Ausübung guter Werke”
      Als ich heute den Begleiter des Moule zum Nachtisch beten hörte und die Anwesenden abgesehn von den beiden Großvätern die Zeit in vollständigem Unverständnis des Vorgebeteten mit Träumen oder Langweile verbrachten, sah ich das in einem deutlichen unabsehbaren Übergang begriffene westeuropäische Judentum vor mir, über das sich die zunächst Betroffenen keine Sorgen machen, sondern als richtige Übergangsmenschen das tragen, was ihnen auferlegt ist. Diese an ihrem letzten Ende angelangten religiösen Formen, hatten schon in ihrer gegenwärtigen Übung einen so unbestrittenen bloß historischen Charakter, daß nur das Verstreichen einer ganz kleinen Zeit innerhalb dieses Vormittags nötig schien, um die Anwesenden durch Mitteilungen über den veralteten frühernGebrauch der Beschneidung und ihrer halbgesungenen Gebete historisch zu interessieren

      Löwy, den ich fast jeden Abend eine 1/2 Stunde lang warten lasse, sagte mir gestern: Seit einigen Tagen schaue ich während des Wartens immer zu ihrem Fenster hinauf. Zuerst sehe ich dort Licht, wenn ich wie gewöhnlich vor der bestimmten Zeit gekommen bin, da nehme ich also an, daß sie noch arbeiten. Dann wird ausgelöscht, im Nebenzimmer bleibt das Licht, sie nachtmahlen also; dann wird in ihrem Zimmer wieder Licht, sie putzen sich also die Zähne; dann wird ausgelöscht, sie sind also schon auf der Treppe, aber dann wird wieder angezündet –
    25. XII (1911) Was ich durch Löwy von der gegenwärtigen jüdischen Litteratur in Warschau und was ich durch teilweisen eigenen Einblick von der gegenwärtigen tschechischen Litteratur erkenne, deut et daraufhin, daß viele Vorteile der litterarischen Arbeit, die Bewegung der Geister, das einheitliche Zusammenhalten des im äußern Leben oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewußtseins der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält, dieses Tagebuchführen einer Nation, das etwas ganz anderes ist als Geschichtsschreibung und als Folge dessen, eine schnellere und doch immer vielseitig überprüfte Entwicklung, die detaillierte Vergeistichung des großflächigen öffentlichen Lebens, die Bindung unzufriedener Elemente, die hier, wo Schaden nur durch Lässigkeit entstehen kann, sofort nützen, die durch das Getriebe der Zeitschriften sich bildende, immer auf das Ganze angewiesene Gliederung des Volkes, die Einschränkung der Aufmerksamkeit der Nation auf ihren eigenen Kreis und Aufnahme des Fremden nur in der Spiegelung, das Entstehen der Achtung vor litterarisch tätigen Personen, die vorübergehende aber nachwirkende Erweckung höheren Strebens unter den Heranwachsenden, die Übernahme litterarischer Vorkommnisse

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