Das Verlies
Prolog
Melissa Roth stand etwa zehn Meter neben der Bushaltestelle, holte einen kleinen Spiegel und den Lippenstift aus der Handtasche, steckte aber beides wieder zurück, nachdem sie festgestellt hatte, dass ihre Lippen noch keine Auffrischung brauchten. Sie trug einen kurzen hellen Rock, halb hohe Schuhe und eine dünne Jacke. Ihr langes blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der fast bis zum Po reichte. Sie war hübsch, eine der hübschesten jungen Frauen, die er kannte, eigentlich sogar die hübscheste, wenn er es recht betrachtete. An der Uni drehten alle Männer die Köpfe nach ihr um, die Schwulen vielleicht ausgenommen, und es gab kaum einen Studenten oder sogar Professor, der nicht gerne etwas mit ihr angefangen hätte. Sie war eine hervorragende Studentin, aber auf eine gewisse Weise auch ein kleines Luder. Seit er sie kannte, hatte sie mindestens fünf Kerle gehabt, darunter auch ein Professor. Die längste Liaison dauerte ungefähr zwei Wochen. Er hatte alles akribisch notiert. Sie war in seinem BWL-Kurs, außerdem hatte sie noch Anglistik belegt. Vor einigen Tagen aber hatte er zufällig erfahren, dass sie eventuell vorhatte, diesen ganzen trockenen Kram hinzuschmeißen und stattdessen auf Kunst umzusatteln. Einige Male hatten sie sich kurz über Belanglosigkeiten unterhalten, meist beim Verlassen des Hörsaals, mehr aber auch nicht. Sie war für ihn ein weit entfernter Traum, er offensichtlich nicht ihr Typ, was sie ihm durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, als sie eine Einladung zum Essen ablehnte. Es war die Art, wie sie ablehnte, die ihn wütend gemacht hatte. Er hatte ihr zwar seinenNamen genannt, doch sie hatte ihn bestimmt längst vergessen. Aber das würde sich bald ändern.
Seit exakt zweiundfünfzig Tagen beobachtete er Melissa, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er führte genau Buch über ihre Aktivitäten außerhalb der Uni und wusste, mit wem sie heute Abend verabredet war. Sie ließ sich nie von ihrer Wohnung abholen, sondern stets an dieser Bushaltestelle, und sie hatte auch noch nie eine ihrer Bekanntschaften mit zu sich nach oben genommen. Anscheinend zog sie es vor, es mit den Kerlen in deren Buden zu treiben, denn nicht selten kam sie erst gegen drei oder vier Uhr morgens zurück. Auch heute lief wieder alles wie gewohnt ab.
Aber diesmal kam derjenige nicht. Es verschaffte ihm eine große Genugtuung, und er musste hämisch grinsen, wenn er sich das Gesicht des Typen vorstellte, als der sich die Bescherung betrachtete. Aber in den letzten zwei Wochen zog eine Bande von Reifenstechern durch die westlichen Vororte Sindlingen und Zeilsheim, weshalb es auch diesmal nur einer von vielen Versicherungsfällen sein würde. Er selbst hatte lange auf diesen Moment gewartet.
Der Bus hielt, in ihm nur ein älterer Mann außer dem Fahrer. Melissa winkte ab, die Türen schlossen sich wieder mit einem Zischen. In immer kürzeren Abständen warf sie einen Blick auf die Uhr, drehte sich ab und zu in die Richtung, aus der ihr derzeitiger Galan kommen musste, doch ihr Gesichtsausdruck wurde von Sekunde zu Sekunde ärgerlicher. Für halb neun hatten sie sich verabredet, und sie hasste Unpünktlichkeit. Der Himmel war jetzt schon den zweiten Tag zugezogen, immer wieder hatte es kurze Schauer gegeben, der Wind war mäßig, die Temperatur beinahe frühlingshaft mild. Für Weihnachten hatten die Meteorologen ebenfalls milde Temperaturen vorausgesagt, aber irgendwann würde der Winter trotzdem Einzug halten. Nach einer knappen halben Stunde war ihre Geduld am Ende. Sie war sehr dünn angezogen und fror trotz der zwölf Grad plus und machtesich auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung. In diesem Moment fuhr er mit seinem erst wenige Tage alten BMW 2002 aus der Parklücke, von wo aus er sie immer beobachtete, und um die Ecke und hielt direkt neben ihr. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und lächelte sie an.
»Hi. Was machst du denn hier?«, fragte er und tat überrascht, sie zu sehen.
Sie blickte ihn wie ein willkommenes Geschenk an, das ihr den Abend versüßen würde, und zuckte mit den Schultern. »Das frag ich mich allerdings auch. Ich bin verabredet, das heißt, eigentlich war ich verabredet, aber dieser Idiot …«
»Wollen wir was trinken gehen? Oder essen? Ich lad dich ein«, sagte er schnell.
Sie zögerte einen Moment, schaute ins Wageninnere und sah den aufmunternden Blick. »Warum eigentlich nicht. Wenn er jetzt noch kommt, hat er eben Pech gehabt. Und wohin willst du
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