Opferschrei
1
Jan Elzner schreckte aus dem Schlaf hoch.
Irgendetwas … ein Geräusch aus der Küche, war in ihre süßen Träume eingedrungen, an die sie sich jetzt schon nicht mehr erinnern konnte. Sie streckte ihren Arm aus, um Martin, ihren Mann, anzustupsen, doch ihre Hand ertastete nur das glatte Leintuch und das kühle Kissen. Vielleicht war er vor ihr aufgewacht und aufgestanden, um dem Geräusch nachzugehen.
Jan lächelte und sank wieder in einen leichten Schlaf, sicher, dass ihr Mann gleich ins Bett zurückkehren würde und alles in Ordnung war. Wahrscheinlich hatte das Geräusch nichts zu bedeuten. Vielleicht war es die Eiswürfelmaschine, die ihren Dienst tat, oder in einem der Schränke war etwas kippelig gestanden und umgefallen. Martin würde sich darum kümmern, so wie er sich immer um alles kümmerte. Er war ein Mann, der …
Eine Stimme.
Sie konnte zwar nichts verstehen, war sich aber sicher, dass es Martins Stimme war.
Mit wem mochte er um – sie warf einen Blick auf den Radiowecker neben dem Bett – drei Uhr morgens bloß reden?
Dann war es plötzlich still.
Jan riss die Augen auf und lag bewegungslos in der Dunkelheit. Die entfernten Geräusche des halbwachen Manhattans drangen gedämpft durch das Schlafzimmerfenster. Jemand schrie weit entfernt, eine Sirene heulte wie ein Wolf auf der Jagd, unten auf der Straße rauschte leise der Verkehr. Nachtgeräusche. Sie rollte sich auf den Rücken und lauschte, lauschte …
Ängstlich. Obwohl sie es nicht zu sein brauchte.
Ich habe keine Angst! Es gibt überhaupt keinen Grund dafür!
Doch sie wusste, dass das nicht stimmte.
Martin führte nie Selbstgespräche. Sie konnte es sich überhaupt nicht vorstellen.
Etwas schepperte , hüpfte einmal und rollte dann über die Fliesen des Küchenbodens.
Sie richtete sich auf und setzte sich auf den Rand des Bettes. Das Hämmern ihres Herzes dröhnte ihr in den Ohren. Sie dachte an das, was ihre Großmutter vor Jahren zu ihr gesagt hatte. Das Herz weiß es vor dem Verstand. Weiß alles als Erstes. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie einen rechteckigen Lichtstrahl, der aus der Küche auf den Boden im Flur fiel. Dann veränderte sich das Licht, als ein Schatten darüberglitt.
Was machte Martin da draußen?
Sie erhob sich. Mit einem Fuß stand sie auf dem Flickenteppich vor dem Bett, mit dem anderen auf dem kalten Holzboden. Die abgeschliffenen Eichendielen hatten ihr und Martin besonders gut an ihrer Wohnung in der Upper East Side gefallen. Irgendwie hatten sie sofort gewusst, dass sie hier glücklich sein würden.
Und wir waren glücklich. Sind glücklich!
Was wusste ihr Herz, was ihr Verstand nicht wusste?
Die Angst war wie ein lähmendes Gift, und dennoch zog es sie zum Licht am Ende des Flurs. Sie musste es wissen – musste herausfinden, was ihr solche Angst einjagte. Steifbeinig setzte sie sich in ihrem Seidennachthemd in Bewegung, die Fäuste so fest zusammengeballt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Das einzige Geräusch, das sie jetzt vernahm, war das leise Tapsen ihrer nackten Füße auf dem Holzboden, während sie sich dem Licht und einer schrecklichen Erkenntnis näherte, vor der es kein Entrinnen gab.
Sie bog um die Ecke und stand in der Küchentür.
Ihr Atem stockte, als das Bild, das sich ihr bot, in sie einsank – die hell erleuchtete Küche, Martin, der zusammengekrümmt auf dem Fußboden lag, umgeben von etwas, das aussah wie ein schwarzer Schatten, die Plastiktüten und die Einkäufe, die auf der glänzenden grauen Oberfläche des Tisches verteilt waren. Eine Tunfischdose lag neben Martins rechtem Arm auf dem Boden. Das war es also, was hinuntergefallen war. Sie muss vom Tisch gerollt sein.
Sie hörte sich selbst Martins Namen sagen, während sie einen Schritt auf ihn zu machte.
Sie war nicht überrascht – nicht wirklich –, als sie sah, wie sich hinter der Kochinsel eine dunkle Gestalt aufrichtete und auf sie zukam. Es war mehr wie eine Bestätigung dessen, was ihre Angst schon längst gewusst hatte. Die Gestalt hielt etwas in ihrer rechten Hand. Eine Pistole? Nein. Doch! Eine Pistole, auf deren Lauf etwas aufgesteckt war. Eine Pistole mit Schalldämpfer.
»Bitte!« Sie sah eine ihrer Hände vor ihrem Gesicht auftauchen. »Bitte!« Nicht ich! Nicht ich! Noch nicht!
Sie hörte kaum das Pffft! der Pistole, als die Kugel durch das Gewebe und die Knochen zwischen ihren Brüsten schlug und in ihr Herz eindrang – ein bleiernes Geschoss, das ihre Welt, ihr Leben in Fetzen
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