Tagebücher 1909-1923
Flüchtigkeit des Sekundenzeigers aber auch seiner Regelmäßigkeit zusammenzieht und läßt. Wenn er über das linke Auge hinfährt, löscht er es fast aus. Für dieses Zusammenziehn haben sich in dem sonst ganz verfallenen Gesicht neue kle ine frische Muskeln entwickelt. – Die talmudische Melodie genauer Fragen, Beschwörungen oder Erklärungen: In eine Röhre fährt die Luft und nimmt die Röhre mit, dafür dreht sich dem Befragten aus kleinen fernen Anfängen eine große im ganzen stolze in ihren Biegungen demüthige Schraube entgegen.
6 (Oktober 1911) Die zwei alten Männer vorn bei dem langen Tisch an der Bühne. Der eine stützt sich mit beiden Armen auf den Tisch und hat nur sein Gesicht, dessen falsche gedunsene Röte mit einem unregelmäßig viereckigen, verfilzten Bart darunter sein Alter traurig verheimlicht, rechts zur Bühne emporgewendet, während der andere der Bühne gerade gegenüber sein vom Alter richtig trockengewordenes Gesicht frei vom Tisch zurückhält, an den er sich nur mit dem linken Arm lehnt, und seinen rechten Arm in der Luft gebogen hält um die Melodie besser zu genießen, der seine Fußspitzen folgen und der die kurze Pfeife in seiner Rechten schwach nachgibt.
"Tateleben, so sing doch mit" ruft die Frau bald dem ersten bald dem zweiten zu, indem sie sich ein wenig bückt und die Arme antreibend vorstreckt.
- Die Melodien sind dazu geeignet, jeden aufspringenden Menschen aufzufangen und ohne zu zerreißen seine ganze Begeisterung zu umfassen, wenn man schon einmal nicht glauben will, daß sie sie ihm geben. Denn besonders die 2 im
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Kaftan eilen zum Singen hin, als strecke es ihnen den Leib nach seinem eigentlichsten
Bedürfnis und das
Händezusammenschlagen während des Gesanges zeigt offenbar das beste Wohlsein des Menschen im Schauspieler an. – Die Kinder des Wirtes in einer Ecke bleiben mit der Frau Klug auf der Bühne in kindlicher Beziehung und singen mit, den Mund zwischen den sich aufstülpenden Lippen voll von der Melodie.
Das Stück: Seidemann, ein reicher Jude, hat sich in offenbarer Verdichtung aller seiner verbrecherischen Instinkte auf dieses Ziel hin, taufen lassen schon vor zwanzig Jahren und hat seine Frau damals, da sie sich zur Taufe nicht zwingen ließ, vergiftet.
Seitdem hat er sich angestrengt, den Jargon zu vergessen, der freilich ohne Absicht in seiner Rede unten mitklingt, und äußert besonders am Anfang damit es sich die Zuhörer merken und weil die herankommenden Vorgänge dazu noch Zeit lassen immerfort einen großen Ekel vor allem Jüdischen. Seine Tochter hat er für den Officier Dragomirow bestimmt, während sie, die ihren Vetter den jungen Edelmann liebt, in einer großen Szene sich in einer ungebräuchlichen erst in der Taille gebrochenen steinernen Stellung aufrichtend ihrem Vater erklärt, daß sie fest am Judentum halte, und die einen ganzen Akt mit einem verächtlichen Lachen über den ihr angetanen Zwang beendet.
[Die Christen des Stückes sind: ein braver polnischer Diener Seidemanns, der später zu seiner Entlarvung beiträgt, brav vor allem deshalb weil um Seidemann die Gegensätze versammelt sein müssen, der Officier, mit dem sich das Stück, abgesehen von der Darstellung seiner Verschuldung wenig abgibt, weil er als vornehmer Christ niemanden interessiert, ebenso wie ein später auftretender
Gerichtspräsident und endlich ein
Gerichtsdiener, dessen Bösartigkeit über die Anforderung seiner Stellung und der Lustigkeit der 2 Kaftanleute nicht hinausgeht, trotzdem ihn Max einen Pogromisten nennt.] Dragomirow kann aber aus irgendwelchen Gründen nur heiraten, wenn seine Wechsel ausgelöst werden, die der alte Edelmann besitzt, die
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dieser aber, trotzdem er vor der Abreise nach Palästina steht und trotzdem sie Seidemann mit Bargeld bezahlen will, nicht hergibt. Die Tochter ist gegen den verliebten Officier stolz und rühmt sich ihres Judentums trotzdem sie getauft ist, der Officier weiß sich nicht zu helfen und sieht, die Arme schlaff die Hände unten lose verschlungen, hilfesuchend den Vater an. Die Tochter entflieht zu Edelmann, sie will den Geliebten heiraten, wenn auch vorläufig im Geheimen, da ein Jude nach dem weltlichen Gesetz eine Christin nicht heiraten darf und sie offenbar ohne Zustimmung ihres Vaters nicht zum Judentum übergehn kann.
Der Vater kommt hin, sieht ein, daß ohne List alles verloren wäre und gibt äußerlich seinen Segen zu dieser Ehe. Alle verzeihen ihm, ja fangen ihn so zu lieben an,
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