Tante Dimity und der unheimliche Sturm
in meinem Hinterkopf bemerkbar machen wollte, dass auch eine einfache Wanderung mindestens so tückisch sein konnte wie das Vorhaben, ein einfaches Weihnachtsfest zu verbringen, schenkte ich keine Beachtung.
2
ANNELISE NAHM MEINE Ankündigung, in den nächsten Tagen eine Wanderung zu unternehmen, gelassen auf. Und Bills denkwürdiger Kommentar zu der mir von Emma verordneten Kur gegen meinen Weihnachtskater war, dass er wünschte, er wäre selbst darauf gekommen.
»Geh nur«, sagte er beim Abendessen. »Nutze das gute Wetter aus, solange es noch anhält. Die frische Luft wird dir wieder den gewohnten Schwung verleihen. Aber versprich mir, dass du dein Mobiltelefon mitnimmst – für alle Fälle.«
»Für den Fall, dass ich mich hoffnungslos verirre?«, sagte ich und hob die Augenbrauen.
Die Antwort meines Mannes fiel eher galant denn aufrichtig aus. »Für den Fall, dass sich dir ein so grandioser Anblick bietet, dass du nicht umhinkannst, ihn mir an Ort und Stelle zu beschreiben.«
»Natürlich nehme ich mein Handy mit«, versprach ich und revanchierte mich für seine Liebenswürdigkeit mit einem Kuss. »Oder möchtest du gern mitkommen?«
»Nichts lieber als das, Lori, aber ich kann nicht. Du weißt ja, wie viel Arbeit während der Weihnachtferien liegen bleibt. Seit wir aus Boston zurück sind, habe ich noch nicht einen Quadratzentimeter meiner Schreibtischplatte zu Gesicht bekommen.«
Ich spürte einen Stich der Enttäuschung, bemühte mich jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. Jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen – Emma hatte bereits meinen Rucksack mit allem Nötigen gepackt, und auch das Lunchpaket war schon fertig. Abgesehen davon gefiel Bill mein origineller Plan so sehr, dass ich es einfach nicht über mich brachte, ihm einzugestehen, dass ich mir meiner Sache doch nicht so sicher war.
Wollte ich wirklich einen ganzen Tag allein im Wald verbringen? Im Gegensatz zu den letzten Monaten, in denen ich kaum eine Minute allein gewesen war? Würde ich es ertragen, fünf, sechs Stunden allein zu sein, von ein paar herumspringenden Lämmern abgesehen, ohne mit jemandem reden zu können? Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würden die Menschen, die mir am nächsten standen, mich mir nichts, dir nichts vor die Tür setzen.
»Lori«, sagte Bill, dem offensichtlich nicht entgangen war, dass ich die Stirn in Falten gelegt hatte, »du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.«
»Ich will aber. Ich weiß nur nicht, ob ich allein wandern will.«
»Nimm doch Tante Dimity mit«, schlug er vor. »Mit ihr kannst du dich unterhalten, wenn du dich gar zu einsam fühlst.«
»Was für eine gute Idee!« Die Falten auf meiner Stirn verschwanden. »Mit der Natur Zwiesprache zu halten ist doch ganz nach ihrem Geschmack.«
»Und Reginald kannst du auch mitnehmen«, fügte Bill hinzu. »Setz ihn in deinen Rucksack und lass ihn den Kopf rausstrecken; Tante Dimity nimmt ohnehin nicht viel Platz ein. Außerdem wiegen beide nicht viel, und Emma muss auch das Lunchpaket nicht aufstocken.«
»Sie werden wunderbare Wanderkameraden sein«, stimmte ich ihm zu, während ich meinem Mann strahlend die Bratkartoffeln reichte.
Hätte ein Fremder unsere Unterhaltung belauscht, so hätte er uns womöglich für geistig umnachtet gehalten. Warum konnte Reginald nicht auf seinen zwei Füßen gehen?, würde er sich fragen. Und wie um Himmels willen können sie die naturverbundene Tante Dimity in einen Rucksack zwängen?
Zweifelsohne wäre der Fremde erleichtert gewesen, zu hören, dass Reginald ein Stofftier war, das ich seit meiner Kindheit besaß, ein kleiner, rosa Flanellhase, der absolut zufrieden damit war, die vorbeiziehende Landschaft von meinem Rucksack aus zu betrachten. Hätten wir dem Fremden hingegen erklären wollen, warum Tante Dimity so leicht zu transportieren war, hätten wir ihn in seiner Befürchtung, dass er es mit zwei Verrückten zu tun hatte, nur noch bestärkt.
Wenn es um Tante Dimity ging, so war jeder Versuch, ihre Existenz erklären zu wollen, äu ßerst heikel. Als Kind hatte ich sie als Hauptfigur in einer Serie von Gutenachtgeschichten kennengelernt, die meine Mutter sich für mich ausgedacht hatte. Als ich viele Jahre später erfuhr, dass die fiktionale Heldin meiner Mutter auf einer ganz und gar nicht fiktionalen Britin namens Dimity Westwood basierte, war ich doch sehr erstaunt.
Meine Mutter war Dimity Westwood in London begegnet, wo beide Frauen ihrem jeweiligen Heimatland im Zweiten
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