Tanz der Engel
andere Art überredet ?«
Raffael kam mir bedrohlich nahe, dennoch hielt ich ihm stand. Erst als er mit einem Finger sanft über meine Lippen fuhr, wich ich zurück.
»Wusste ich’s doch! Er hat dich geküsst.«
»Du weißt gar nichts!«
»Wahrscheinlich mehr als du.«
In Raffaels Stimme lag ein Bedauern, das mich frösteln ließ. Doch noch bevor mir eine passende Antwort einfiel, kehrte er mir den Rücken zu und ging davon.
Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht hinterherzuschreien, wie sehr er sich irrte. Christopher liebte mich – nur deshalb hatte er sich an mich gebunden.
»Scheißkerl!«, grummelte ich. Raffaels Finger hatten auf meinen Lippen eine brennende Spur hinterlassen. Wehe, wenn er es wagen sollte, mich noch einmal anzufassen! Wütend stapfte ich zum Schloss hinüber. Ich würde ihm den Hals umdrehen!
»Na? Wie lief’s?«
Ich schreckte zusammen, als Marisa aus dem Schatten einer der weißen Säulen oberhalb der steinernen Außentreppe hervortrat, die rechts und links den Aufgang zum Schloss markierten – sie hatte mich und Raffael beobachtet!
»Verdammt, Marisa! Was soll das?! Mich so zu erschrecken!«
»Von weitem sah’s gar nicht mal so übel aus«, sinnierte sie. »Ich glaub, er hat angebissen. Als er so zärtlich über deine Lippen fuhr, dachte ich, er würde dich gleich küssen.«
»Vergiss es!« Zärtlich! Dass ich nicht lache. Raffael wusste genau, was er mit seiner Berührung in mir auslösen würde. Offenbar war er nicht nur über die Engelswelt bestens informiert. Wütend öffnete ich die schwere Eichenholztür und eilte an Marisa vorbei in die prunkvolle, mit Marmorkamin und Mosaikfußboden verzierte Eingangshalle des Schlosses. Sie kam hinterher und verstellte mir den Weg.
»Doch, bestimmt. Seine Augen funkelten, während er dich dabei beobachtete.« Marisa seufzte. »Jungs und ihr Jagdinstinkt. Du hast ihn geweckt, als du ihm einen Korb gegeben hast. Jetzt wittert er eine zweite Chance.«
»Ich hab ihm niemals einen Korb gegeben!«
»Ach nein?! Glaubst du, Raffael ist so beschränkt und hat nicht bemerkt, wie du ihm Juliane untergejubelt hast?«
»Warst du nicht diejenige, die mich dazu ermutigt hat?«
Touché – Marisa schwieg. Ich drängte mich an ihr vorbei und stürmte die Treppe nach oben in mein Zimmer. Meine Lippen brannten – was ich hasste, weil es mir Christophers Abschiedskuss in Erinnerung rief.
Wo, verdammt, steckte er bloß? Hatte er es sich anders überlegt?
Verärgert kickte ich meine Schuhe unters Bett. Engel! Anscheinend wirklich unfassbar : Unfassbar schön, unfassbar anziehend – unfassbar vage!
Ich angelte mir mein Französischbuch und setzte mich an meinen Schreibtisch. Lernen würde mich ablenken. Weit kam ich nicht. Auf meinem Mund brannte noch immer die Spur, die Raffaels Finger hinterlassen hatte. Ich wischte mir – bestimmt zum hundertsten Mal – über die Lippen, um seinen Abdruck loszuwerden. Was wollte er mit seiner Berührung bezwecken? Und was glaubte er zu wissen, wovon ich angeblich keine Ahnung hatte?
Genervt starrte ich in den wolkenverhangenen Junihimmel, als ob ich dort Antworten auf meine Fragen fände. Ich wusste so wenig von Christopher und seiner Welt. Nur über eines war ich mir sicher: total verliebt in diesen überirdischen Engel zu sein.
Nach der durchgrübelten Pause kehrte ich zu meinem Kursraum zurück – und traute beinahe meinen Augen nicht: Marisa baggerte Raffael an! Wollte sie die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen – was ich unmöglich zulassen konnte –, oder spekulierte sie darauf, dass ich auf ihre Anmache reagieren und ihn wieder übernehmen würde? Doch im Grunde war es egal, ob Marisa mich mit ihrer Flirteinlage bloß anstacheln wollte. Nur ich wusste über Raffael Bescheid, weshalb es meine Aufgabe war, ihn von meinen Mitschülern fernzuhalten. Und da wederHannah noch meine Freunde das kommende Wochenende im Internat verbringen würden, hatte ich genügend Zeit, ihn mir vorzuknöpfen.
Um Marisa von weiteren Flirtanfällen abzuhalten, weihte ich sie in mein Vorhaben ein.
»Damit ich nicht noch mal mit ansehen muss, wie du dich an Raffaels Hals schmeißt, werde ich mich die nächsten zwei Tage besonders intensiv um ihn kümmern. Spätestens am Sonntagabend wird er mir aus der Hand fressen.«
»Überschätzt du dich da nicht ein bisschen?«
»Wart’s ab. Er wird so folgsam wie ein Schoßhündchen sein.«
Wie ich das machen wollte, wusste ich schon ziemlich genau. Gut, dass meine Freunde
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