Gefangen in der Wildnis
1. KAPITEL
S ie waren alle tot. Alle, außer ihr.
Dessen war sie sicher.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit seit dem Aufschlag vergangen war oder wie lange sie hier schon vornübergebeugt saß, den Kopf zwischen den Knien. Es konnten Sekunden sein, Minuten, Lichtjahre. Zeit konnte also doch stillstehen.
Es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Das hässliche Knirschen von berstendem Metall, bis es mit einem letzten Ächzen verhallte. Die verstümmelten Bäume, unschuldige Opfer des Absturzes, standen wieder ruhig, kaum ein Blatt bewegte sich noch. Es war unheimlich still, kein Laut mehr, nichts.
Absurderweise überlegte sie, wie es sich anhörte, wenn ein Baum umstürzte. Machte es überhaupt ein Geräusch? Ja. Sie hatte es gehört. Also lebte sie noch.
Sie hob den Kopf. Haar, Schultern und Rücken waren übersät mit kleinen Plexiglasstückchen - Überreste dessen, was einst die Fensterluke neben ihrem Sitz gewesen war. Sie schüttelte vorsichtig den Kopf, und die Teilchen regneten herunter, fielen leise klirrend zu Boden. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen.
Sie wollte schreien, aber das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Ein Blutbad, grässlicher als der schlimmste Albtraum eines Fluglotsen.
Die beiden Männer in der Sitzreihe vor ihr - gute Freunde, nach dem lauten Lachen und gutmütigen Gefrotzel zu urteilen - waren jetzt tot. Der Kopf des einen war durch das Fenster geschlagen. Sie registrierte diese Tatsache, sah aber nicht genauer hin. Da war eine riesige Blutlache. Hastig kniff sie die Augen zusammen und öffnete sie nicht mehr, bis sie den Kopf weggedreht hatte.
Auf der anderen Seite des Ganges noch ein toter Mann, den Kopf an der Rückenlehne, so als hätte er geschlafen, als das Flugzeug abstürzte. Der einsame Wolf. Sie hatte ihn in Gedanken so getauft, noch bevor das Flugzeug gestartet war. Da es eine kleine Maschine war, war die Zuladung stark beschränkt. Während Passagiere und Gepäck genauestens gewogen worden waren, hatte der einsame Wolf abseits von der Gruppe gestanden, seine ganze Haltung war hochmütig und feindselig gewesen. Seine Unfreundlichkeit hatte jeden Versuch einer Unterhaltung mit den anderen Passagieren, die alle aufgekratzt mit ihren Erfolgen und Fähigkeiten prahlten, im Keim erstickt. Seine Unnahbarkeit hatte ihn vom Rest der Gruppe getrennt - so wie ihr Geschlecht sie isoliert hatte. Sie war die einzige Frau an Bord.
Und jetzt die einzige Überlebende.
Als sie nach vorn sah, erkannte sie, dass das Cockpit vom Rumpf gerissen worden war. Es lag mehrere Meter weiter vorn. Pilot und Copilot, beides freundliche und gut gelaunte junge Männer, waren blutüberströmt und offensichtlich tot.
Sie schluckte. Der bärtige Copilot hatte ihr beim Einsteigen geholfen und noch mit ihr geflirtet. Er habe nur selten Frauen an Bord, und wenn, dann nie solche, die wie Fotomodelle aussahen.
Die anderen beiden Passagiere in den vordersten Sitzen, Brüder, wurden noch von ihren Gurten gehalten. Sie waren von dem zersplitterten Baumstamm getötet worden, der den Flugzeugrumpf wie ein Dosenöffner aufgeschlitzt hatte. Ihre Familien würden mit einem zweifachen Verlust fertig werden müssen.
Sie begann zu weinen. Hoffnungslosigkeit und Furcht übermannten sie. Sie hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Sie hatte schreckliche Angst zu sterben. Und Angst, dass sie es nicht tun würde.
Für die anderen Passagiere war der Tod schnell und schmerzlos gekommen. Sie waren wahrscheinlich alle direkt beim Aufprall getötet worden. Ihr Tod jedoch würde langsam und qualvoll sein. Soweit sie es im Moment beurteilen konnte, war sie auf wundersame Weise unverletzt geblieben. Sie würde langsam umkommen. Vor Durst und Hunger, hier in dem unwegsamen Gelände.
Sie fragte sich, wieso sie noch lebte. Die einzige Erklärung war, dass sie ganz hinten gesessen hatte. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie jemanden dort in der Hütte am Great Bear Lake gehabt, bei dem sie sich verabschieden musste. Sie war als Letzte eingestiegen. Alle Plätze waren bereits besetzt gewesen, außer dem in der letzten Reihe.
Als der Copilot ihr an Bord geholfen hatte, waren die derben Männergespräche schlagartig verstummt. Mit leicht geneigtem Kopf, um sich nicht an der niedrigen Kabinendecke zu stoßen, war sie nach hinten zu dem einzigen freien Sitz gegangen. Kein sehr angenehmes Gefühl, als einzige Frau an Bord. Als würde man in ein schummriges, verräuchertes Hinterzimmer treten, in dem eine heiße Partie Poker im
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