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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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redet von Leuten, deren Namen ich noch nie zuvor gehört habe. Aber nach einer Weile wendet er sich einem bekannten Vorfall zu. Er erzählt von dem Nachttopf, der aus dem Fenster geleert wurde. »Stell dir vor, da stehe ich«, sagt er, »und schreie mir die Seele aus dem Leib. Junge Frau, hier ist Ihr Mann von Walker Brothers, jemand zu Hause? « Er spielt sich selbst, ruft, grient übers ganze Gesicht, schaut voll freudiger Erwartung hoch, und dann – er taucht jäh weg, hält sich schützend die Arme über den Kopf, zieht ein Gesicht, als bäte er um Gnade (in Wirklichkeit tat er nichts dergleichen, ich sah ja zu), und Nora lacht, fast so heftig wie mein Bruder vorhin.
    »Das ist nicht wahr! Kein Wort davon ist wahr!«
    »Aber ja, Madam. Wir haben durchaus Helden in den Reihen von Walker Brothers. Ich bin froh, dass du es komisch findest«, sagt er finster.
    Ich bitte ihn schüchtern: »Sing das Lied.«
    »Welches Lied? Bist du jetzt obendrein noch Sänger geworden?«
    Verlegen sagt mein Vater: »Ach, nur das Lied, das ich mir unterwegs ausgedacht habe. Wenn ich mir Reime ausdenke, habe ich beim Fahren was zu tun.«
    Aber nach einigem guten Zureden singt er es doch, schaut dabei Nora mit drolliger, entschuldigender Miene an, und sie lacht so sehr, dass er manchmal unterbrechen muss, bis sie sich wieder eingekriegt hat, aber auch, weil sie ihn selbst zum Lachen gebracht hat. Dann macht er Verschiedenes aus seiner Vertretertrickkiste vor. Wenn Nora lacht, quetscht sie ihren großen Busen unter die verschränkten Arme. »Du bist verrückt«, sagt sie. »Total verrückt.« Sie sieht meinen Bruder ins Grammophon spähen, springt auf und geht zu ihm hinüber. »Da sitzen wir und amüsieren uns und denken überhaupt nicht an dich, ist das nicht schrecklich?«, sagt sie. »Du möchtest, dass ich eine Schallplatte auflege, nicht wahr? Du möchtest eine schöne Platte hören? Kannst du tanzen? Aber deine Schwester doch bestimmt?«
    Ich sage nein. »Ein großes Mädchen wie du und so hübsch und kann nicht tanzen!«, sagt Nora. »Höchste Zeit, dass du’s lernst. Du wirst bestimmt mal eine fabelhafte Tänzerin. Ich werde ein Stück auflegen, zu dem ich früher getanzt habe, sogar dein Daddy, als der noch das Tanzbein geschwungen hat. Du hast wohl gar nicht gewusst, dass dein Daddy mal getanzt hat? Tja, dein Daddy, das ist ein begabter Mann!«
    Sie schließt den Deckel, packt mich unerwartet um die Taille, nimmt meine andere Hand und zwingt mich, rückwärts zu gehen. »So wird’s gemacht, ja, so wird getanzt. Folge mir. Diesen Fuß, siehst du. Eins und eins-zwei. Eins und eins-zwei. So ist’s gut, ganz prima, nicht auf die Füße schauen! Folge mir, so ist’s richtig, siehst du, wie leicht das ist? Du wirst eine fabelhafte Tänzerin! Eins und eins-zwei. Eins und eins-zwei. Ben, sieh mal, wie deine Tochter tanzt!« Flüstern, das dein Ohr betört, Flüstern, wo uns niemand hört …
    Rund und rund auf dem Linoleum, ich stolz, eifrig, Nora lachend, schwungvoll, sie umgibt mich mit ihrer seltsamen Fröhlichkeit, ihrem Geruch nach Whisky, Eau de Cologne und Schweiß. Unter den Armen ist ihr Kleid feucht, auf ihrer Oberlippe bilden sich kleine Tropfen und bleiben in den weichen schwarzen Härchen an ihren Mundwinkeln hängen. Sie wirbelt mich vor meinem Vater herum – was mich ins Stolpern bringt, denn ich bin keineswegs eine so gelehrige Schülerin, wie sie vorgibt – und lässt mich los, außer Puste.
    »Tanz mit mir, Ben.«
    »Ich bin ein miserabler Tänzer, Nora, und das weißt du.«
    »Der Meinung war ich nie.«
    »Wärst du aber jetzt.«
    Sie steht vor ihm, ihre Arme hängen hoffnungsvoll herunter, ihre Brüste, die mich eben noch mit ihrerwarmen Fülle in Verlegenheit gebracht haben, heben und senken sich unter ihrem weiten, geblümten Kleid, ihr Gesicht leuchtet von der Anstrengung und vor Freude.
    »Ben.«
    Mein Vater senkt den Kopf und sagt leise: »Nein, Nora.«
    Also kann sie nur gehen und die Schallplatte vom Teller nehmen. »Ich kann alleine trinken, aber ich kann nicht alleine tanzen«, sagt sie. »Außer ich bin noch viel verrückter, als ich denke.«
    »Nora«, sagt mein Vater lächelnd. »Du bist nicht verrückt.«
    »Bleib zum Abendessen.«
    »Nein, nein. Wir wollen dir keine Mühe machen.«
    »Das ist keine Mühe. Ich würde mich freuen.«
    »Und ihre Mutter würde sich Sorgen machen. Sie würde denken, wir sind im Straßengraben gelandet.«
    »Ach, so. Ja.«
    »Wir haben schon viel von deiner Zeit

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