Tanz des Verlangens
Geist. Sie war zu etwas geworden, das sogar sie selbst in Angst und Schrecken versetzte. Etwas Unnatürliches. Nie wieder würde sie eine Geliebte oder eine Freundin sein. Niemals eine Mutter, wie sie es immer geplant hatte, für die Zeit nach ihrer Karriere als Tänzerin. Während draußen ein Sturm getobt hatte, hatte sie stundenlang unhörbar geschrien.
Das Einzige, wofür sie dankbar sein konnte, war, dass Louis nicht zusammen mit ihr dort gefangen saß.
Sie versuchte es noch einmal mit all ihrer Kraft. Ich muss … diese Zeitung … haben!
Néomi war nicht sicher, wieso sie überhaupt noch geliefert wurde. In einer der letzten Ausgaben hatte sie einen Artikel über die Probleme gelesen, die sich aufgrund einer „mehrfachen Belastung von Kreditkarten“ ergeben konnten, und sie nahm an, dass sie von der nachlässigen Kontrolle der Kreditkartenabrechnungen ihrer letzten Mieterin profitierte. Die Lieferung konnte jederzeit enden. Jede einzelne Ausgabe war kostbar.
Schließlich kapitulierte sie. Sie gab auf und setzte sich mitten in die von Unkraut überwucherte Einfahrt. Aus Gewohnheit strich sie sich über die Oberschenkel, doch sie spürte die Berührung nicht.
Néomi konnte nichts mehr fühlen. Nie wieder. Sie war ein immaterielles Wesen, so wenig greifbar wie der Nebel, der vom Bayou herankroch.
Danke vielmals, Louis. Oh, und von mir aus kannst du in der Hölle verrotten, denn da bist du mit Sicherheit gelandet …
An diesem Punkt des Ringens um die Zeitung kämpfte sie für gewöhnlich gegen das Verlangen an, sich die Haare auszureißen, und fragte sich, wie lange sie diese Existenz wohl noch ertragen konnte und womit sie das verdient hatte.
Sicher, am Abend ihres Todes hatte sie sich geweigert zu sterben, aber das war doch lachhaft.
Doch so verzweifelt sie sich auch nach den gedruckten Worten sehnte, so ging es ihr doch nicht ganz so schlecht wie sonst. Denn am vorherigen Abend war ein Mann in ihr Haus gekommen. Ein groß gewachsener, gut aussehender Mann mit ernstem Blick. Vielleicht würde er ja heute Abend wiederkommen. Vielleicht würde er sogar einziehen .
Aber sie sollte besser nicht zu große Hoffnungen auf den Fremden setzen, die am Ende dann doch nur wieder zerschmettert werden würden …
Ein grelles Licht blendete Néomi, und gleich darauf zerriss das Geräusch quietschender Reifen die Stille der Nacht. Als ein Wagen über den Kies der Einfahrt schoss, hob sie vergeblich die Arme, um ihr Gesicht zu schützen, und stieß einen stummen Schrei aus. Er fuhr genau durch sie hindurch, und der Motor ließ ihren Kopf dröhnen wie bei einem Erdbeben, als er ihre Geistergestalt durchquerte.
Das Fahrzeug fuhr, ohne das Tempo zu drosseln, über die von Eichen gesäumte Einfahrt weiter auf Elancourt zu.
2
Néomi blinzelte. Ihre gut ausgeprägte Nachtsichtigkeit kehrte nur langsam zurück. Selbst nach all diesen Jahren war sie immer noch überrascht, dass sie unverletzt geblieben war.
Sie erkannte den schnittigen, tief liegenden Wagen vom Vorabend wieder, der sich deutlich von den Trucks unterschied, die gewöhnlich über diese alte Landstraße tuckerten. Was bedeutete … was bedeutete …
Er ist zurückgekommen! Der Mann mit den ernsten Augen, der gestern Abend hier war!
Augenblicklich war die Zeitung vergessen, und sie materialisierte sich auf einem Treppenabsatz in Elancourt, von dem aus sie den Haupteingang im Blick hatte. Mit weit ausgestreckten Armen schwebte sie auf das Fenster zu, als ob sie sich mit beiden Händen an den Fensterrahmen festhalten wollte.
Dort draußen in der Einfahrt stand sein Wagen.
Bitte zieh doch hier ein! , hatte sie ihn am vergangenen Abend anflehen wollen, als der Mann das Herrenhaus inspiziert hatte. Er hatte die Säulen untersucht, die Tücher von einigen der übrig gebliebenen Möbelstücke heruntergezogen und schließlich sogar den Heizstrahler im großen Salon in Gang gesetzt. Offensichtlich zufrieden, dass er funktionierte, hatte er dann die Rohre geprüft, die unter dem Fußboden lagen, indem er wiederholt auf die Marmorfliesen gestampft hatte.
Die Heizung wird funktionieren , hatte sie innerlich geschrien. Vor zehn Jahren war das Herrenhaus von einem jungen Paar modernisiert worden, das eine ganze Zeit lang dort gewohnt hatte.
Doch sie war leider nicht in der Lage, diesem mysteriösen Fremden die Vorzüge von Elancourt näherzubringen. Denn sie war ein Geist. Wie sich herausgestellt hatte, war es ihr unmöglich zu sprechen oder sich zumindest auf
Weitere Kostenlose Bücher